Leerstelle im Freudentaumel um die Streichung von §218

Abbrüche nach PND

Mit dem Einsetzen der „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ steht nicht nur eine Legalisierung von Leihgebähren und Eizelltransfer im Raum, auch die Streichung des Abtreibungsparagraphen 218 aus dem Strafgesetzbuch scheint vielen nun in greifbare Nähe zu rücken. Dabei bleibt die Komplexität der Thematik oft auf der Strecke.

Eine goldene Statue der Justitia aus der Froschperspektive vor grauem Himmel

Foto via Pixabay (NoName_13)

Im Jahr 1871 erlassen und im Nationalsozialismus mehrmals verschärft, kriminalisiert §218 StGB auch heute noch den Schwangerschaftsabbruch – ein Zustand, der nicht nur seit Jahrzehnten von Feminist*innen angeprangert wird, sondern auch den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zuwider läuft.

Die Kommission prüft eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuchs – das bedeutet aber auch, dass der Paragraph nicht einfach ersatzlos gestrichen wird, sondern der Schwangerschaftsabbruch erneut gesetzlich geregelt werden muss – auch, wenn er entkriminalisiert wird. Derzeit sieht das Gesetz drei Ausnahmeregelungen für die Strafbewährung von Abtreibung vor:

  1.  Die sogenannte Fristenlösung. Hierfür muss die schwangere Person sich einer Pflichtberatung unterziehen und mindestens drei Tage „Bedenkzeit“ zwischen Beratung und Prozedur verstreichen lassen. Abbrüche nach dieser Regelung können nur in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft stattfinden.
  2.  Die „kriminologische Indikation“: ist die Schwangerschaft Ergebnis einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, bleibt der Abbruch ebenfalls innerhalb der ersten zwölf Wochen straffrei.
  3. Die „medizinische Indikation“: Ein Abbruch bleibt auch dann straffrei, wenn eine Fortsetzung der Schwangerschaft eine erhebliche Gefährdung des Lebens oder der (auch psychischen) Gesundheit der schwangeren Person bedeuten würde.

Mogelpackung Medizinische Indikation

Bis 1995 gab es eine sogenannte embryopathische Indikation, d.h. ein Fötus konnte bei einer diagnostizierten Behinderung auch über die 12-Wochen-Frist hinaus abgetrieben werden. Der Passus wurde aufgrund seiner Behindertenfeindlichkeit gestrichen, allerdings erfuhr in diesem Zuge die medizinische Indikation eine Erweiterung. Mit einer Hilfskonstruktion wird die embryopathische Indikation verschleiert: eine Behinderung des Fötus wird als unzumutbare Beeinträchtigung des psychischen Wohls der schwangeren Person ausgelegt. So bleiben Abbrüche auch über die 12-Wochen-Frist hinaus straffrei – vordergründig geht es hier aber nicht mehr um den Fötus, sondern um die schwangere Person.

Mit den zunehmenden Möglichkeiten der Pränataldiagnostik und der Kassenzulassung des nicht-invasiven Pränataltests auf die Trisomien 13, 18 und 21 schreitet auch eine Normalisierung solcher Verfahren voran: Schwangere beginnen, sie als Teil der Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen – der Druck zur Inanspruchnahme steigt. Damit stehen immer mehr Schwangere vor der Entscheidung, ob sie im Falle eines positiven Ergebnisses ihre Schwangerschaft fortsetzen wollen – eine breitere gesellschaftliche Debatte über die behindertenfeindlichen Implikationen dieser Testpraxis blieb weitestgehend aus.

Viel Jubel, wenig Komplexität

Feministische Aktivist*innen, Ärzt*innen und Gesundheitsorganisationen begrüßten einhellig die Einberufung der Kommission und eine mögliche Streichung des §218 aus dem Strafgesetzbuch. Nach dem Wegfall von §219 StGB im Juli 2022, der ein Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche aufstellte, das de facto einem Informationsverbot für Ärzt*innen gleichkam und den Zugang zu Abtreibungen erheblich erschwerte, hoffen viele, dass sich die positive Entwicklung fortsetzt. Neben allgemeiner Euphorie finden sich aber bisweilen nur wenig konkrete Stellungnahmen und Vorschläge, wie ein neues Abtreibungsrecht aussehen könnte. Größtenteils fokussieren die Positionierungen von feministischen Initiativen und Fachverbänden auf die viel kritisierte Pflichtberatung, die unnötige Bedenkfrist und die schlechte Versorgungslage. Wie ein Umgang mit der bisherigen medizinischen Indikation, Pränataldiagnostik und damit zusammenhängenden Abtreibungen aussehen könnte, scheint hingegen nicht von Interesse zu sein. Tatsächlich ist das Thema Pränataldiagnostik nicht erst seit Kurzem eine Leerstelle im feministischen Pro-Choice-Aktivismus. Viele scheuen die Debatte um Grenzen der Selbstbestimmung, Behindertenfeindlichkeit und der Frage nach einer intersektional-feministischen Positionierung in diesem komplexen Gefüge.

Pränataldiagnostik als Randnotiz

Der Deutsche Juristinnenbund veröffentlichte bereits vor Beginn der Kommissionsarbeit ein Policy Paper mit Vorschlägen für ein neues Regelungsmodell. Die Frage, ob Abbrüche nach einer vorgeburtlichen Diagnose nicht ebenfalls einer Regelung bedürften, wird hier gar nicht gestellt – sie dienen lediglich als Beleg, dass es bei Wegfall der 12-Wochen-Frist nicht zu einer Zunahme sogenannter Spätabbrüche kommen würde: „,Spätabbrüche‘ spielen in der Praxis nur dann eine Rolle, wenn die Schwangerschaft an sich gewollt ist, aber entweder die Gesundheit der schwangeren Person gefährdet ist oder pränataldiagnostische Untersuchungen auf eine gesundheitliche Beeinträchtigung des Fötus deuten.“.

In einem im August 2023 erschienenen 13-seitigen Positionspapier von „Doctors for Choice Germany“, einem bundesweiten Netzwerk von Ärzt*innen und Medizinstudierenden, hingegen tauchen die medizinische Indikation und das Thema Pränataldiagnostik durchaus auf. Die medizinische Indikation wird ebenfalls vor allem im Zusammenhang mit einer Argumentation für die Abschaffung der 12-Wochen-Frist erwähnt: „Abbrüche im 2. und 3. Trimenon betreffen in der Regel Schwangere, die sich aus medizinischen Gründen von ihren Wunsch-Schwangerschaften verabschieden müssen. Sie werden in Deutschland überwiegend medikamentös, also als medizinisch eingeleitete Geburt, durchgeführt. Dieser Vorgang kann sowohl körperlich als auch psychisch sehr belastend sein. Die Vorstellung, dass manche diesen Schritt ohne triftigen Grund gehen, ist weder logisch noch belegt.“. Für Anbieter*innen von Pränataldiagnostik fordern Doctors for Choice einen Ausbau ihrer Beratungsleistung: „Gerade Fachabteilungen der Pränataldiagnostik sollten in die Pflicht genommen werden, neben der Diagnosestellung auch Beratung in Bezug auf Umgang, Darstellung der Optionen (z.B. palliative Geburt, Schwangerschaftsabbruch) und Entscheidungsfindung sowie Anbindungsmöglichkeiten anzubieten.“.

Am Wunsch nach Beratung zeigt sich zumindest, dass hier gesehen wird, in welch komplexer Situation sich schwangere Personen in einem solchen Fall befinden. Allerdings scheint die Stoßrichtung der anvisierten Beratung eine rein medizinische zu sein, da als Beispiele für Optionen lediglich palliative Geburt und Schwangerschaftsabbruch aufgelistet sind, nicht aber Informationen zum Leben mit einem behinderten Kind, Hilfesystem und Unterstützungsleistungen. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Erwähnung von „Anbindungsmöglichkeiten“ als bloße Vermittlung zu Praxen und Kliniken, die Abbrüche durchführen und nicht etwa zu Peer-Beratungsangeboten von anderen Eltern mit behinderten Kindern. Hier zeigt sich, wie sehr in Deutschland trotz Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention noch das medizinische Modell von Behinderung vorherrscht und wie wenig kritisch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eines Lebens mit Behinderung in den Blick genommen werden.

Wiedereinführung der embryopathischen Indikation? Ein gefährlicher Vorstoß

Während eine Neubewertung der Indikationsregelung und der Fristen für Spätabbrüche insgesamt eine Leerstelle bleibt, hat sich ein Verband ausführlich mit diesem Aspekt beschäftigt, ist dabei allerdings zu einem fragwürdigen Ergebnis gelangt: der Humanistische Verband Deutschland plädiert für eine Neueinführung einer eigenständigen embryopathischen Indikation. Wie genau diese aussehen soll, lässt das Positionspapier allerdings offen: „Um hier sensible Lösungen zu finden, ist ein weiterer Austausch auch mit Behindertenverbänden nötig. Zu humanistischer Verantwortung gehört immer auch gesellschaftliche und politische Verantwortung. Um festzulegen, welche Indikatoren einen späteren Abbruch legitimieren, ist eine größere gesellschaftliche Debatte nötig, die möglichst viele Interessen berücksichtigt und in gegenseitiger Wertschätzung und Offenheit geführt werden sollte.“. Etwas deutlicher wird es in einem zweiseitigen Artikel auf der Website der Humanistischen Partei, geschrieben von Gita Neumann, die auch als Referentin für den Humanistischen Verband tätig ist. Leitlinien zu einer solchen Indikation sollten ihrer Meinung nach folgende Fragen behandeln: „Noch bis zu welchem fortgeschrittenen Zeitpunkt nahe der natürlichen Geburt dürfte und bei welchem Schweregrad der Erkrankung beziehungsweise Behinderung sollte ein Abbruch durchgeführt werden, um dem Neugeborenen selbst schweres Leid zu ersparen? Wie würde in Abwägung mit dem Entwicklungsstadium des Fötus eine zu erwartende Gesundheitsgefährdung der werdenden Mutter zu bewerten sein?“.

Was aber bedeutet das? Was ist ein „Schweregrad der Behinderung?“ bei einem Fötus?

Welches gesellschaftliche Bild von Behinderung steckt in diesem Leidensbegriff? Und wer vermag, diese Grenzen zu ziehen und festzulegen? Eine Behinderung definiert sich nach dem SGB IX wie folgt: „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.“ Auch der sogenannte Grad der Behinderung bemisst sich nicht allein an medizinischen Diagnosen, sondern am Maß der Teilhabeeinschränkungen, die maßgeblich gesellschaftlich bedingt sind. Ein Fötus nimmt nicht an der Gesellschaft teil, es gibt also keinen existierenden Beurteilungsmaßstab, auf den hier Bezug genommen werden könnte. Eine solche Einteilung ergibt also nur Sinn, wenn man ein rein medizinisches Modell von Behinderung voraussetzt, das defizitorientiert ist, die gesellschaftliche Dimension von Behinderung gänzlich ausblendet und eng an Vorstellungen von Leid und Belastung geknüpft ist. Diese Logik führt letztendlich in die Fahrwasser der eugenischen Unwerturteile, stellt sie in der Zuspitzung doch die Frage danach, welches Leben gesellschaftlich als nicht lebenswert beurteilt wird.

Mehr Komplexität wagen

Um solchen Vorstößen Einhalt zu gebieten, dürfen Feminist*innen und Kritiker*innen selektiver Pränataldiagnostik nicht scheuen, sich mit den Ambivalenzen rund um Schwangerschaftsabbrüche und PND auseinanderzusetzen. Statt zu befürchten, komplexe Fragestellungen könnten die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gefährden, sollte der Anspruch sein, eine gute Lösung zu finden, die intersektional ausgerichtet ist und nicht mit dem Fokus auf körperliche Selbstbestimmung aus dem Blick verliert, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Entscheidungen stattfinden.

 

28. August 2023

Jonte Lindemann ist Mitarbeiter*in des GeN und Redakteur*in des GiD.

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