Pharmaversorgung

AOK kooperiert mit Neuroleptika-Herstellern

Die Zunahme der Verschreibungen von Psychopharmaka wird auch durch die Privatisierungspolitik im Gesundheitswesen gestützt.

Ein Pilotprojekt der niedersächsischen AOK zur Integrierten Versorgung (IV) zeigt, wie gesundheitspolitische Reformen der vergangenen Jahre die Interessen der Pharmaunternehmen bedienen und dazu beitragen, psychiatrische Therapien zu pharmakologisieren. IV heißt: Haus- und Fachärzte, ambulante Pflege, Kliniken, Rehabilitation, Apotheker, Medizinische Versorgungszentren und andere Therapeuten kooperieren. Erklärtes Ziel ist es, Klinikaufenthalte zu vermeiden und die ambulante Betreuung von PatientInnen zu verbessern.
Für die IV ihrer 13.000 Versicherten mit der Diagnose Schizophrenie hat die AOK Niedersachsen einen Vertrag mit der Managementgesellschaft I3G GmbH abgeschlossen. Da sie pro Schizophrenie-Patient nach eigenen Angaben 4.000 Euro aus dem Gesundheitsfonds erhält, kann sie im Jahr 52 Millionen Euro für die Versorgung dieser Versichertengruppe kostendeckend ausgeben. Der Deal: Falls Mehrkosten auftreten, trägt IV-Partner I3G das Risiko. Wird Geld gespart, beispielsweise durch weniger stationäre Krankenhausaufenthalte, teilen sich die Kasse und die I3G den Überschuss.
Das klingt nach einer sparsamen Lösung für das gebeutelte öffentliche Gesundheitssystem. Ist es aber nicht. Denn I3G ist eine hundertprozentige Tochter des Pharmaunternehmens Janssen-Cilag, das Neuroleptika wie Invega, Risperdal und Risperdal Consta vertreibt. Möglich macht diese Art der Kooperation das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG), das Anfang dieses Jahres in Kraft getreten ist und es gesetzlichen Krankenkassen erlaubt, IV-Verträge mit Pharmaunternehmen abzuschließen. Der naheliegenden Befürchtung, im Versorgungsnetz könnten insbesondere die Produkte von Janssen-Cilag erfolgreich verkauft werden, tritt die AOK in Niedersachsen mit dem Versprechen entgegen, das Programm Ende diesen Jahres zu evaluieren und gegenzusteuern, sollten bestimmte Medikamente bevorzugt verschrieben worden sein.
Mit welchen Produkten auch immer - die pharmakologische „Therapie“ wird in diesem Modell favorisiert. Nicht nur pharmazeutische Unternehmen und ihre Ableger, auch die AOK hat daran Interessen. Gemeinsam mit der Pharmatochter I3G wird sie das Ziel verfolgen, viele Medikamente in möglichst ansehnlichen Mengen zu verschreiben. Denn die Krankenkasse bekommt pro Versichertem mit der Diagnose Schizophrenie eine Art Entschädigung aus dem so genannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Das sind immerhin 5.364,60 Euro für jeden Patienten.
Voraussetzung für diese Zahlung ist, dass bestimmte Mindestmengen von Medikamenten verordnet werden. Volkmar Aderhold, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Greifswald, hat ausgerechnet, was das in dem niedersächsischen Pilotprojekt konkret bedeutet: Die an der IV teilnehmenden Ärzte müssten die Medikation so einstellen, dass die Patienten ein halbes Jahr lang den Tagesmittelwert von Neuroleptika einnehmen. Aus medizinischer Sicht hingegen sollten sie auf die nebenwirkungsreichen Medikamente verzichten, so Aderhold, und wo das nicht geht, die Tagesdosis so niedrig wie möglich halten.
Dennoch ist mit einer Zunahme der Verschreibungen von Neuroleptika zu rechnen, da es für Ärzte grundsätzlich attraktiv ist, an Integrierten Versorgungsnetzen teilzunehmen - hier sind ihre Honorare nicht budgetiert, sondern frei aushandelbar. Ob die Betroffenen an dem Pilotprojekt in Niedersachsen teilnehmen, sollen sie freiwillig und aufgeklärt entscheiden. Allerdings gehört zu einer wirklichen Aufklärung auch die Einsicht in den Kooperationsvertrag von I3G und AOK, um etwa datenschutzrechtliche Fragen klären zu können - aber beide Partner verweigern dies bislang.
Wird das Modell als Erfolg gewertet, kann es auch für andere Diagnosen Anwendung finden. Die Firma Lilly hat bereits Interesse signalisiert. Pharmakonzerne wollen eben nicht nur mehr Arzneimittel verkaufen. Sie möchten in einem zunehmend privatisierten Gesundheitswesen Rundum-Dienstleister werden und ganze Versorgungsbereiche besetzen. Das passt gut zum erklärten Ziel des Bundesgesundheitsministeriums, Pharmaunternehmen und Managementfirmen an der IV zu beteiligen. Setzt sich das Konzept tatsächlich durch, wird eine ambulante Behandlung außerhalb solcher Versorgungsnetze zunehmend schwieriger werden. Freie Arztwahl oder eine zweite Expertenmeinung - all das dürfte es in diesen Netzwerken aus Pharmainteressen, kostenbewussten Krankenkassen und Leistungserbringern mit Gewinnerwartungen perspektivisch nicht geben.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
208
vom Oktober 2011
Seite 15

Erika Feyerabend ist Autorin und Journalistin und Mitbegründerin und Mitarbeiterin bei BioSkop e.V. - Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien.

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