Die Personalisierung der Depression

Ein aktuelles Forschungsprojekt untersucht die psychiatrische Biomarker-Forschung

In der psychiatrischen Forschung und Praxis hat sich in den letzten Jahren ein neues Leitbild etabliert: die Vision einer „Personalisierten Psychiatrie“. Eine Abstimmung von Therapien auf die individuellen Charakteristika der Patient*innen soll nicht nur deren Effektivität erhöhen, sondern auch die volkswirtschaftlichen Kosten psychischer Erkrankungen senken. In einigen Ansätzen ist damit auch eine neue Definition psychischer Erkrankungen verbunden, die kontrovers diskutiert wird. Ein aktuelles Forschungsprojekt untersucht die Dynamiken und Auswirkungen dieses Ansatzes.

Grundlage der Vision einer „Personalisierten Psychiatrie“ ist eine Unterscheidung der Patient*innen anhand von Biomarkern, das heißt biologischen Parametern, die als Indikatoren für Erkrankungen oder für Reaktionen auf therapeutische und präventive Behandlungen dienen. Gesucht werden derartige Marker nicht nur auf Proteinebene, im Stoffwechsel oder Genom, sondern auch auf der Ebene von Strukturen und Aktivitätsmustern des Gehirns. Solche Biomarker-Tests sollen künftig nicht nur therapeutische Entscheidungen anleiten, sondern auch bei der Diagnostik psychischer Erkrankungen zum Einsatz kommen. Dabei werden jedoch nicht nur biologische Marker zur Absicherung anerkannter Diagnosen gesucht; vielmehr werden etablierte Kategorien und Klassifikationsprinzipien prinzipiell infrage gestellt.

Paradigmenwechsel in der Diagnostik?

Seit den 1980er Jahren erfolgt die Diagnostik psychischer Erkrankungen anhand der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation sowie dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) der American Psychiatric Association. Die Kategorien beider Systeme  stimmen weitgehend überein, wobei jede gelistete Krankheit seit den 1980er Jahren durch eine Kombination von Symptomen im Erleben und Verhalten beschrieben ist. In der aktuellen ICD-10 wird eine „Depressive Episode“ etwa als eine affektive Störung definiert, die unter anderem mit niedergeschlagener Stimmung, einem Verlust von Energie, Aktivität und Interesse sowie einer Beeinträchtigung des Schlafs, des Appetits und des Selbstwerts einhergeht. Zahlreiche Vertreter*innen der psychiatrischen Biomarker-Forschung sind der Auffassung, dass diese deskriptive Diagnostik die Genauigkeit der Diagnosen (Reliabilität) erhöht habe; deren Gültigkeit (Validität) sei jedoch keineswegs gesichert. Vor dem Hintergrund dieser Debatte wurde am US-amerikanischen National Institute of Mental Health (NIMH) inzwischen die Research Domain Criteria Initiative ins Leben gerufen. Diese soll als eine Plattform für Forschungsansätze dienen, die psychische Erkrankungen nicht mehr ausgehend von symptom-basierten Beschreibungen, sondern von (neuro-)biologischen und kognitionswissenschaftlichen Forschungsergebnissen unterscheiden wollen. Obwohl noch viele Anstrengungen notwendig seien, um eine neue „biologisch valide“ Klassifikation psychischer Störungen zu etablieren und das Ziel einer Personalisierten Psychiatrie zu erreichen, wird bereits diese Initiative als Ausdruck eines echten Paradigmenwechsels (Cuthbert/Insel 2013: 3) begriffen.

Vor dem Hintergrund dieser Dynamik hat sich im psychiatrischen Diskurs inzwischen eine Kontroverse entwickelt, die die Grundlagen und Perspektiven der Disziplin neu verhandelt. Für die einen eröffnet das Projekt einer Biomarker-basierten Personalisierten Psychiatrie vielversprechende diagnostische und therapeutische Perspektiven. Andere befürchten eine fortschreitende (Re-)Biologisierung der Psychiatrie und eine Marginalisierung psychosozialer Forschungs- und Therapieansätze.

Depression im Fokus

Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekts „Die Personalisierung der Depression“ gehen wir seit Januar 2017 dieser sozio-technischen Vision sowie den in Aussicht gestellten medizinischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen am Beispiel depressiver Störungen nach. Unsere These ist, dass die zunehmende Ausrichtung an Biomarkern nicht nur das professionelle Selbstverständnis und die Handlungslogiken der Psychiatrie verändert, sondern auch ihre disziplinären Grenzen verschiebt und die gesellschaftlichen Bilder von Gesundheit und Krankheit sowie von Psyche und Körper verändert. Die Biomarker-basierte Personalisierte Psychiatrie könnte damit auch die Identitätszuschreibungen und das Selbstverständnis von Personen verändern, die als ‚psychisch krank‘ diagnostiziert werden.

Der Fokus des Projekts liegt auf den so genannten depressiven Störungen. Erste Biomarker-Tests, die zwar nicht die Diagnose einer Depression, jedoch eine personalisierte Auswahl und Dosierung gängiger Antidepressiva ermöglichen sollen, sind bereits verfügbar. So soll der „STADA Test Antidepressiva“ die Eingruppierung von Patient*innen in „Metabolisierungstypen“ ermöglichen, um auf dieser Grundlage aus der Palette etablierter Antidepressiva jene auszuwählen, bei denen mit einer guten Wirkung und geringen Nebenwirkungen zu rechnen ist. Ein weiterer genetischer Test, der ebenfalls die (medikamentöse) Therapie-Entscheidung bei depressiven Störungen unterstützen soll, wird inzwischen als ABCB1-Test von dem Münchener Unternehmen HMNC Brain Health vermarktet. Die gegenwärtige Verschreibungspraxis von Antidepressiva wird von Forscher*innen und Praktiker*innen, aber auch im massenmedialen Diskurs häufig als trial-and-error-Prozess problematisiert. Beide Tests versprechen, diesen aufwendigen Prozess zu beschleunigen, indem sie rascher die Auswahl eines im Einzelfall wirksamen Medikaments ermöglichen; so wirbt HMNC Brain Health etwa mit dem Slogan „Schneller richtig“.

Das Forschungsprojekt

Interviews mit Expert*innen aus Wissenschaft und Industrie sowie Patient*innenorganisationen werden ergänzt durch eine Analyse wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Publikationen und Fachkonferenzen. So möchten wir Aufschluss darüber erhalten, wie die Vision der Personalisierten Psychiatrie und das Konzept des Biomarkers Eingang in die psychiatrische und klinisch-psychologische Forschung fanden und die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Depression verändern. Für unser Projekt von besonderem Interesse ist auch, welche Hoffnungen und Befürchtungen die verschiedenen Akteur*innen des Feldes mit dieser Vision verbinden und welche Kontroversen und Allianzen sich dabei abzeichnen.1 Zudem untersuchen wir, wie verschiedene Wissensformen (z.B. psychologisches, genetisches und neurowissenschaftliches Wissen) miteinander in Beziehung gesetzt und Biomarker in Entstehungsmodellen psychischer Krankheiten verortet werden. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive interessiert uns darüber hinaus, wie in diesen biopsychiatrischen Wissenspraktiken auf Normen und Standards (unter anderem auf medizinisch-psychiatrische Klassifikationssysteme) sowie gesellschaftliche Strukturkategorien (etwa Alter, Geschlecht, Ethnizität) zurückgegriffen wird. Es ist eine empirisch offene Frage, ob diese im Prozess der Biomarker-Forschung hinterfragt und aufgebrochen oder naturalisiert und verfestigt werden.

Soziologie der Psychiatrie

Über diese spezifischen Zielsetzungen hinaus wollen wir mit dem Projekt auch einen weitergehenden Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Debatte leisten. In den 1960er und 1970er Jahren war die Psychiatrie als Wissenschaft und klinische Praxis ein prominenter Gegenstand soziologischer Forschung und Kritik. Im Mittelpunkt standen damals die autoritären Strukturen psychiatrischer Institutionen sowie die Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen, die als ‚psychisch krank‘ klassifiziert wurden  (z.B. Goffman 1973; Keupp 1972). Nach dem im Jahr 1975 vorgelegten „Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“ sowie den nachfolgenden sozialpsychiatrischen Reformen, die unter anderem mit dem Aufbau einer gemeindenäheren Versorgung einhergingen, ist die psychiatrische Forschung und Praxis jedoch aus dem Fokus der deutschsprachigen Soziologie geraten.2 Die tiefgreifenden Transformationsprozesse, die sich seither in der Psychiatrie und der psychiatrischen Wissensproduktion vollzogen haben, wurden dementsprechend fast ausschließlich im englischsprachigen Raum untersucht (siehe z.B. Pickersgill 2010; Rose/Abi-Rached 2013). Unser Forschungsprojekt soll somit dazu anregen, an die vielfältigen Traditionen einer Soziologie der Psychiatrie anzuschließen und diese unter Rückgriff auf neuere theoretische und empirische Perspektiven zu aktualisieren.

Nicht zuletzt hoffen wir, mit unserer Untersuchung einen Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstverständigung über den sich abzeichnenden wissenschaftlich-technischen Veränderungsprozess zu leisten. Da die psychiatrische Biomarker-Forschung das Verständnis von psychischer Krankheit und Normalität einschneidend verändern könnte, ist deren sozialwissenschaftliche und gesellschaftliche Reflexion dringend geboten.

 

  • 1So gehen etwa einige Akteur*innen davon aus, dass die Identifikation von Biomarkern zu einer Entstigmatisierung psychischer Krankheiten beiträgt. Ob sich eine solche Tendenz tatsächlich abzeichnet oder der Prozess der Biomarkerisierung sogar neue Formen von Diskriminierung, Ausgrenzung und Responsibilisierung hervorbringt, ist vor dem Hintergrund der Ergebnisse einschlägiger Untersuchungen (siehe z.B. Phelan 2005, Schomerus et al. 2014) jedoch eine offene Frage.
  • 2Zu den sozialpsychiatrischen Reformen siehe Forster 1997. Erst im Zuge der Debatte um den Anstieg von Depressions- und ADHS-Diagnosen scheint das Interesse auch in Deutschland wieder zuzunehmen (z.B van Raden 2011; Dellwing/Harbusch 2013)

Literatur

Cuthbert, Bruce N.; Insel, Thomas R. (2013): Toward the future of psychiatric diagnosis: the seven pillars of RDoC. In: BMC Med 11 (1), Artikel 126. Abgerufen am 19.02.2015 unter: http://www.biomedcentral.com/content/pdf/1741-7015-11-126.pdf.

Dellwing, Michael; Harbusch, Martin (Hg.) (2013): Krankheitskonstruktionen und Krankheitstreiberei. Die Renaissance der soziologischen Psychiatriekritik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Forster, Rudolf (1997): Psychiatriereformen zwischen Medikalisierung und Gemeindeorientierung. Eine kritische Bilanz. Opladen: Westdeutscher Verl.

Goffman, Erving (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Jain, Kewal K. (2010): The handbook of biomarkers. New York u.a: Springer.

Keupp, Heiner (1972): Psychische Störungen als abweichendes Verhalten. Zur Soziogenese psychischer Störungen. München u.a: Urban & Schwarzenberg.

Phelan, Jo C. (2005): Geneticization of Deviant Behavior and Consequences for Stigma: The Case of Mental Illness. In: Journal of Health and Social Behavior, 46, S. 307-322.

Pickersgill, Martyn (2010): Psyche, soma, and science studies: New directions in the sociology of mental health and illness. In: Journal of Mental Health, 19 (4), S. 382-392.

Rose, Nikolas; Abi-Rached, Joelle M. (2013): Neuro. The New Brain Sciences and the Management of the Mind. Princeton: Princeton University Press.

van Raden, Rolf (2011): Tradierte Aussagesysteme. Psychiatrie und Biomedizin als Diskurs und politische Praxis. In: Sascha Dickel; Martina Franzen; Christoph Kehl (Hg.), Herausforderung Biomedizin. Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis (S. 89-110) Bielefeld: Transcript Verlag.

Schomerus, Georg; Matschinger, Herbert; Angermeyer, Matthias C. (2014): Causal beliefs of the public and social acceptance of persons with mental illness: a comparative analysis of schizophrenia, depression and alcohol dependence. In: Psychological Medicine, 44, S. 303-314.

15. Oktober 2018

Jonas Rüppel, Psychologe und Soziologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich „Biotechnologie, Natur und Gesellschaft“ des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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Laura Schnieder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe "Human Diversity in the New Life Sciences: Social and Scientific Effects of Biological Differentiations" (SoSciBio). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Medizinsoziologie sowie der feministischen Wissenschafts- und Technikforschung.

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Thomas Lemke ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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