Helsinki updated

Ethische Grundsatzerklärung im Wandel

Die Deklaration von Helsinki ist weltweit wohl die bekannteste ethische Grundsatzerklärung für die medizinische Forschung am Menschen. Im Laufe der Zeit ist sie mehrmals ergänzt und überarbeitet worden. In den letzten Jahren gab es einen Hang zu pragmatischeren Versionen.

Völkerrechtlich verbindlich ist die 1964 von der Generalversammlung des Weltärztebundes (World Medical Association, WMA) verabschiedete Helsinki-Deklaration nicht. Ihr normativer Einfluss ist dennoch groß - in vielen nationalen Gesetzeswerken und im ärztlichen Standesrecht wird auf sie Bezug genommen. Einer der wichtigsten Grundsätze der Deklaration lautet, „das Wohlergehen der individuellen Versuchsperson (müsse) Vorrang vor allen anderen Interessen haben”. Weitere zentrale Prinzipien sind das Erfordernis der freiwilligen und informierten Einwilligung seitens der ProbandInnen; die „sorgfältige” Abwägung des zu erwartenden Risikos und Nutzens für die Versuchsperson; und die Verpflichtung des Forschers, medizinische Versuche vor der Durchführung von einer unabhängigen und interdisziplinären Ethikkommission begutachten und genehmigen zu lassen. Diese Ethikkommission, so heißt es in der 2008 erneut überarbeiteten Fassung, habe das Recht, den „Verlauf der Studie zu überwachen”. Jede Abweichung vom ursprünglichen Studienprotokoll müsse erneut der Prüfung unterzogen werden.1 Seit ihrer Verabschiedung ist die Deklaration sechsmal überarbeitet und zweimal durch „klärende Kommentare” ergänzt worden. Dabei ist zwar der größere Teil der ethischen Prinzipien im Kern nicht angetastet worden. Mit einzelnen Konkretisierungen ist es jedoch zu weitreichenden Verschiebungen gekommen. Am deutlichsten zeigen sich diese Erosionen bei den Regelungen zur medizinischen Versorgung von ProbandInnen und zu besonders schutzbedürftigen Personengruppen. Während die 2000 verabschiedete Version der Deklaration diesbezüglich noch weitreichende Regelungen enthielt, wurden diese nach heftigen Protesten seitens einiger WissenschaftlerInnen und der Industrie in den folgenden Jahren (2002; 2004; 2008) wieder zurückgenommen. So war medizinische Forschung nach der bisher gültigen Version „nur gerechtfertigt, wenn es eine große Wahrscheinlichkeit gibt, dass die Populationen, an denen die Forschung durchgeführt wird, von den Ergebnissen der Forschung profitieren”.2 In der neuen Fassung gilt dieses Prinzip nur noch für „benachteiligte oder besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen”. Auch die Forderung, dass am Ende einer Studie alle Versuchspersonen, „die in der Erprobung als am wirksamsten erwiesenen prophylaktischen, diagnostischen und therapeutischen Verfahren erhalten”, wurde mittlerweile abgeschwächt. Alternativ ist diese Verpflichtung gegenüber den Probanden nun auch durch eine „geeignete medizinische Versorgung oder anderen Nutzen” abgegolten.1

Heftige Kontroversen

Für besonders heftige Kontroversen sorgte jahrelang das 2000 aufgenommene Verbot, bei Arzneimitteltests Placebos einzusetzen, wenn bereits eine geprüfte Standardtherapie für die betreffende Indikation vorhanden ist. Placebos sind Scheinmedikamente, die keine arzneilich wirksamen Bestandteile enthalten und bei den meisten Arzneimitteltests der Kontrollgruppe verabreicht werden. Ethisch problematisch ist, dass den betroffenen Versuchspersonen dabei bewusst eine Behandlung vorenthalten wird. Besonders pikant ist dies in Ländern, in denen die meisten Menschen ohnehin keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Bereits 2002 wurde das Placebo-Verbot aber mit einem „klarstellenden Kommentar” deutlich gelockert und der Einsatz von Placebos auch dann erlaubt, wenn „wissenschafliche Gründe dies erfordern” oder die Patienten „nicht mit ernsthaften und irreversiblen Schäden zu rechnen haben”.3 Damit hatte die Deklaration innerhalb der Kontroverse eine extrem freizügige Position eingenommen.4 In der 2008 in Seoul verabschiedeten Version der Deklaration wurde das strittige Wörtchen „oder” immerhin durch „und” ersetzt und ein zusätzlicher Appell an das Gewissen einzelner Wissenschaftler eingefügt: „Damit diese Option nicht zum Missbrauch führt, muss äußerste Sorgfalt walten.”3 Besonders liberal zeigt sich die Deklaration mit Hinblick auf die Forschung mit identifizierbaren Körpermaterialien, die in Kliniken und Forschungsinstituten lagern. Der 2008 erstmals aufgenommene Passus besagt, dass (falls eine Ethikkommission zustimmt) in solchen Fällen auf ein informiertes Einverständnis der Menschen, von denen diese Proben stammen, verzichtet werden kann.3

  • 1 a b World Medical Association Declaration of Helsinki. Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects. 59th WMA General Assembly, Seoul, Okt. 2008. (bisher keine dt. Übersetzung erhältlich)
  • 2Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki, Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen, 56. Generalversammlung des Weltärztebundes, Tokio, 2004. Übersetzung durch die Bundesärztekammer.
  • 3 a b c Taupitz, Jochen, Die neue Deklaration von Helsinki. Vergleich mit der bisherigen Fassung, Deutsches Ärzteblatt (2001) 98.38: A-2413-2420.
  • 4Wiesing, Urban und Ramin Parsa-Parsi, „Deklaration von Helsinki: Neueste Revision, Deutsches Ärzteblatt (2009) 106.11: A-503-506.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
195
vom September 2009
Seite 21

Monika Feuerlein ist freie Journalistin und arbeitete mehrere Jahre lang als Redakteurin für den Gen-ethischen Informationsdienst (GID).

zur Artikelübersicht

Nur durch Spenden ermöglicht!

Einige Artikel unserer Zeitschrift sowie unsere Online-Artikel sind sofort für alle kostenlos lesbar. Die intensive Recherche, das Schreiben eigener Artikel und das Redigieren der Artikel externer Autor*innen nehmen viel Zeit in Anspruch. Bitte tragen Sie durch Ihre Spende dazu bei, dass wir unsere vielen digitalen Leser*innen auch in Zukunft aktuell und kritisch über wichtige Entwicklungen im Bereich Biotechnologie informieren können.

Ja, ich spende!  Nein, diesmal nicht