Rezension: Unbürgerliche Psychiatriekritik

Die Neuauflage des US-amerikanischen Diagnosehandbuchs für psychische Erkrankungen, DSM-V, sorgte 2013 für intensive und anhaltende Debatten über den Krankheitswert psychischer Normabweichungen, die Interessen der Pharmaindustrie und der Nachweisbarkeit biologischer Ursachen für psychische Ausnahmezustände. Auch in der deutschen linken psychiatriekritischen Szene hat dies neue Debatten angestoßen, die in dem Sammelband Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychologie und Psychiatrie zusammengefasst worden sind. Der Band will eine Gegendiagnose stellen gegen die „bürgerliche“ Psychiatriekritik, die sich nur an dieser Krankheitsausweitung zu stören scheint, statt über eine Kritik am Krankheitsbegriff und seiner gesellschaftlichen Funktion eine radikale Gesellschafts- und Machtkritik zu leisten. Dabei wird in teils sehr eklektizistischer Art ein breites Spektrum an Zugängen und Aspekten abgebildet, das erkennbar auch der Selbstverständigung der Szene dient.

Lobenswerterweise werden diese vielschichtigen aktuellen Debatten auch mit der (deutschen) Vergangenheit verbunden, vor allem in dem Beitrag von Andreas Hechler, der die Recherchen und Analysen zu seiner im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms T4 ermordeten Urgroßmutter darstellt. Die Kategorisierung als „lebensunwert“ wirkt bis in die aktuellen Familienkonstellationen, aber auch gesellschaftlich nach. So werden die Opfer dieser systematischen Vernichtung als einzige Opfergruppe auch in den Gedenkstätten nicht mit vollem Namen genannt. Dadurch sollen die Identifizierbarkeit von Nachfahren von als „erbkrank“ und „arbeitsunfähig“ definierten Menschen verhindert werden und diese vor Diskriminierung geschützt werden. Hechler ist jedoch darin zuzustimmen, dass die Nicht-Veröffentlichung der Namen das „Verdecken, Verstecken und Tabuisieren“ der Ermordeten „zementiert“ und das Bekämpfen von „ableistische[n] Annahmen über ‚genetische Erblichkeit‘“ der weitaus sinnvollere Diskriminierungsschutz wäre.

Kirsten Achtelik

➤ Cora Schmechel, Fabian Dion, Kevin Dudek, Mäks* Roßmöller (Hg.): Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychologie und Psychiatrie. Edition Assemblage (2015), 344 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-942885-80-5.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
235
vom April 2016
Seite 42

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