In Bewegung

Agrarwende Jetzt! Demo zum EU-Agrargipfel

Ende August sind mehrere hundert Menschen dem Aufruf des Bündnisses „Wir haben es satt“ zur „Agrarwende Anpacken“-Demo nach Koblenz gefolgt. Vielfältig und laut wurde für eine zukunftsfähige EU-Agrarreform, hin zu einer nachhaltigen bäuerlichen Landwirtschaft demonstriert.
Anlass war die EU-Agrarminister*innenkonferenz, bei der u. a. über die „Gemeinsame Agrarpolitik der EU“ (GAP) diskutiert wurde. Die Demonstrant*innen kritisierten die aktuelle Politik von „wachse oder weiche“, Produktivitätssteigerungen auf Kosten von Mensch, Tier und Natur sowie billige Im- und Exporte mit hohem CO2-Fußabdruck.
Die Agrarindustrie gefährde die Zukunft von uns allen, weshalb von verschiedenen Tier und Umweltschutzgruppen, Imker*innen, Landwirt*innen und der weltweiten Bewegung Fridays for Future lautstark eine grundlegende und ökologische Änderung der GAP gefordert wurde. Fördergelder sollten zielorientiert für mehr Klimaschutz, Tierwohl und Insektenschutz eingesetzt, die GAP-Reform mit den Klima- und Biodiversitätszielen in Einklang gebracht und dem Hofsterben ein Ende gesetzt werden.

www.wir-haben-es-satt.de

Erika Hickel, 1934-2020

von Helga Satzinger

Dass Gorleben nicht mehr Endlager für radioaktiven Müll wird, hat Erika Hickel nicht mehr erfahren. Als die Professorin für Geschichte der Pharmazie und Naturwissenschaften an der TU Braunschweig 1983 – nach einem gerade in Niedersachsen durch den Widerstand gegen den Ausbau der Atomenergie geprägten Wahlkampf – mit den Grünen in den Bundestag einzog, machte sie die Forschungs- und Technologiepolitik zu ihrem Thema.
Insbesondere kritisierte sie das Vorhaben einer breiten industriellen Anwendung der gerade erst wenige Jahre alten Methoden der rekombinanten DNA – Gentechnik – und die damit beabsichtigte gezielte Neukonstruktion und Selektion erwünschter bzw. unerwünschter Organismen, einschließlich des Menschen. Für Erika Hickel verkörperte das Projekt Gentechnik eine auf Beherrschung zielende, zutiefst mit patriarchalen Machtverhältnissen verwobene Wissenschaft und Technik, die das Unverstandene zerstört und daher neue ökologische, gesundheitliche und gesellschaftliche Probleme schafft.
Sie versuchte mit dem parlamentarischen Instrumentarium Enquetekommission Wege eines ‚Ausstiegs vor dem Einstieg’ auszuloten. Die nötigen Stimmen von der SPD änderten das Vorhaben zur Untersuchung von „Chancen und Risiken der Gentechnologie“. Erika Hickel nutzte diese Situation dennoch, um eine Fülle von Argumenten aus verschiedenen natur- und gesellschaftlichen Perspektiven zusammenzutragen und damit eine breite außerparlamentarische Debatte über Gentechnik und Reproduktionsmedizin zu stärken. Wichtig war hier die Arbeitsgemeinschaft Gentechnik der Grünen, die sozusagen als Scharnier zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit diente. Aus diesem personellen und argumentativen Kontext ging 1986 auch das Gen-ethische Netzwerk hervor.
Für Erika Hickel war der systematische Ausschluss von Frauen aus den Naturwissenschaften und politischen Entscheidungsprozessen Indikator und Ursache der Produktion zerstörerischen Herrschaftswissens. Sie forderte die respektvolle Suche nach Verstehen als Grundzug einer künftigen „Nachfolgewissenschaft“ Sie träumte von einer eigenen TU für Frauen, förderte Frauen in Naturwissenschaft und Technik und trug wesentlich zum Entstehen einer feministischen Wissenschaftsforschung bei.
2020 bekamen ausgerechnet zwei Frauen den Nobelpreis für das gentechnische Verfahren CRISPR-Cas9. Die von Erika Hickel und anderen aufgeworfene Frage, wie denn nun in der Molekulargenetik und Biologie generell ein Paradigmenwechsel zustande gebracht werden kann, bleibt weiterhin offen.
 

Ein Wunschkind – um welchen Preis?

Auf der Jahrestagung der evangelischen arbeitsgemeinschaft familie (eaf) im September 2020 in Bonn setzten sich die Vereinsmitglieder mit den komplexen sozialen und ethischen Fragen auseinander, welche die Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin mit sich bringen. An zwei Tagen kamen die rund 60 Teilnehmenden zusammen, um Vorträge zu verschiedenen Aspekten der Thematik zu hören und um in Arbeitsgruppen untereinander sowie mit den geladenen Expert*innen zu diskutieren. Als Grundlage diente das von der Geschäftsstelle und Beiratsmitgliedern geschriebene und kurz vor der Tagung veröffentlichte Positionspapier „Kinderwunsch und Kindeswohl – Plädoyer für einen verantwortungsvollen Umgang mit Reproduktionsmedizin“. Insbesondere die Frage nach der Legalisierung der „altruistischen Eizellspende“ wurde kontrovers diskutiert und es konnte bis zuletzt keine klare Vereinsposition gefunden werden. Fest stand am Ende der Veranstaltung: Das Thema wird die eaf weiter begleiten und beschäftigen, sie will sich für einen Ausbau von Beratungsangeboten und eine Berücksichtigung von Fragen rund um das Kindeswohl im Kontext von Reproduktionsmedizin einsetzten.

www.kurzelinks.de/gid255-tc

Digitale Wissenschaftskritik

Anfang September veranstaltete das Genethische Netzwerk zusammen mit den Kritischen Mediziner*innen Berlin zwei Online-Vorträge. Die ursprünglich im Sommer am Universitätskrankenhaus Charité Berlin geplante Veranstaltungsreihe sollte ein Raum für eine selbstkritische Diskussion von Wissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Position bieten. Exemplarisch wurden dafür zwei Missstände im internationalen und deutschen Wissenschaftssystem ausgewählt. Am ersten Termin thematisierten die beiden Referentinnen Sophie Gepp und Theresa Krüger von der AG Interessenkonflikte der Studierendeninitiative Universities Allied For Essential Medicines (UAEM) das
Thema Interessenkonflikte in der medizinischen Lehre und Forschung. Erst seit einigen Jahren wird diesem Problem größere Beachtung geschenkt. Dabei zeigen Studien schon länger, dass Interessenkonflikte sowohl die medizinische Praxis als auch die Entwicklung neuer Therapien zum Nachteil von Patient*innen beeinflussen. Schon im Studium kommen Medizinstudierende mit zahlreichen Versuchen der Einflussnahme in Kontakt, doch kaum eine deutsche Hochschule besitzt Leitlinien zum Umgang mit Interessenkonflikten. Für die zweite Veranstaltung referierte Magdalena Beljan vom Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) über das Thema prekäre Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft. Sie berichtete sowohl aus ihrer persönlichen Perspektive heraus, als auch mit Statistiken unterlegt, wie prekär die beruflichen Perspektiven von Wissenschaftler*innen an öffentlichen Forschungseinrichtungen und Hochschulen sind. Unterhalb der Professur sind laut einer Studie von 2017 rund 82 bis 84 Prozent der Beschäftigten befristet angestellt – unter den 45-Jährigen sind es sogar 93 Prozent. Es sind jedoch nicht alle Wissenschaftler*innen gleich betroffen, sondern strukturelle Ungleichheiten (re-)produzieren sich in den prekären Arbeitsverhältnissen – Frauen und Arbeiterkinder sind benachteiligt. Das Feedback nach beiden Veranstaltungen war äußerst positiv – sowohl von Seiten des Publikums als auch von den Referentinnen. Insgesamt waren die von der Rosa-Luxemburg- Stiftung geförderten Veranstaltungen trotz der widrigen Pandemiebedingungen (also) ein voller Erfolg.

Egal wo. Egal wer. Egal warum.

Schwangerschaftsabbruch ist Grundversorgung! – So lautete das Motto der bundesweiten Vernetzung zum diesjährigen International Safe Abortion Day. Am 28. September fanden 120 Aktionen in 50 Städten statt, um auf die unzureichende Versorgungslage aufmerksam zu machen und die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zu fordern. Im ganzen Land waren Aktivist*innen auf den Straßen und im Internet aktiv. Auf Kundgebungen, Demonstrationen und weiteren Aktionen und Veranstaltungen wie Ausstellungen, Erzählcafés und Filmvorführungen drückten sie ihren Unmut über die Tabuisierung und Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen aus. Die Organisator*innen zeigten sich zufrieden mit der medialen und öffentlichen Resonanz. Der #28sept hat ‚getrendet‘, der Safe Abortion Day scheint nun auch in Deutschland bekannt und etabliert zu sein.

www.safeabortionday.noblogs.org/news/

Fachgespräch über reproduktive Gerechtigkeit

Anfang September kamen im Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung 25 Organisationsvertreter*innen und Aktivist*innen zusammen, um in Hinblick auf das kommende Wahljahr über das Themenfeld der reproduktiven Selbstbestimmung und Gesundheit zu sprechen. Wenn auch mit Hygiene-Regeln und Sicherheitsabstand, beflügelte das reale Treffen die Diskussion sowie den fachlichen und strategischen Austausch der Teilnehmenden. Neue und alte Verbündete konnten sich begegnen, voneinander lernen und miteinander arbeiten. Nach Inputvorträgen zu den Themen Frauengesundheit, geschlechtliche Vielfalt, Migration und Sprache im Kontext reproduktiver Gerechtigkeit wurden diese und weitere komplexe Themen an Arbeitstischen vertiefend diskutiert, Strategien entwickelt und viele neue Fragen aufgeworfen. Eingeladen hatte Derya Binışık, die neue Referentin für sexuelle Selbstbestimmung und reproduktive Gerechtigkeit. Um die begonnene Arbeit und den Austausch zwischen Expert*innen zu verstetigen, ruft sie derzeit die AG Reproduktive Gerechtigkeit ins Leben. Ziel dieser Arbeitsgruppe, an der sich das GeN beteiligen wird, soll es unter anderem sein, kontroversen Themen wie Pränataldiagnostik und marginalisierte Perspektiven wie zum Beispiel jener von Menschen mit Behinderung endlich mehr Raum im feministischen Diskurs zu geben und insgesamt zu einer Steigerung der gesellschaftspolitischen Aufmerksamkeit für das Themenfeld der Reproduktion beizutragen.

www.gwi-boell.de/de/sexuelle-und-reproduktive-rechte

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
255
vom November 2020
Seite 4 - 5

GID-Redaktion

zur Artikelübersicht

Nur durch Spenden ermöglicht!

Einige Artikel unserer Zeitschrift sowie unsere Online-Artikel sind sofort für alle kostenlos lesbar. Die intensive Recherche, das Schreiben eigener Artikel und das Redigieren der Artikel externer Autor*innen nehmen viel Zeit in Anspruch. Bitte tragen Sie durch Ihre Spende dazu bei, dass wir unsere vielen digitalen Leser*innen auch in Zukunft aktuell und kritisch über wichtige Entwicklungen im Bereich Biotechnologie informieren können.

Ja, ich spende!  Nein, diesmal nicht