Rezension: Medizinethik interdisziplinär

Medizinethische Tagungen und Bände zum „Umgang mit Nichtwissen“ sind mittlerweile zahlreich. Insofern muss ein Band mit Neuem aufwarten. Das macht „Wissen an der Grenze“. Er geht nicht nur medizinethisch an Fragestellungen des „Nichtwissens“ heran, sondern eröffnet aus unterschiedlichen Disziplinen den Blick. Wie könnte etwa Recht entwickelt werden, so dass es normativ und für neue technologische Entwicklungen offen ist, gleichzeitig Revision und Überprüfung grundlegend einbezieht, um „Irrtumskorrekturen“ vorzunehmen? Nach einer verbindenden Einleitung spannt der erste Beitrag - von Peter Wehling - den Inhalt des Bandes auf: Einerseits gelte „Nichtwissen“ als problematisch, unter anderem, wenn zunächst unbekannte Folgen von Behandlungen erst dann verstanden würden, nachdem eine Behandlungsmethode lange genutzt wurde. Andererseits werde „Nichtwissen“ positiv verhandelt - als eine der Optionen, die Menschen bei prädiktiver genetischer Diagnostik haben sollten. Zugespitzt: Diese zwei Bedeutungen umkreist der Band. Wehling wendet sich der soziologischen Dimension zu. Andere Beiträge fokussieren philosophisch, rechtlich und theologisch die gesellschaftliche wie individuelle Bedeutung von „Nichtwissen“. Zentralen Bezugspunkt bildet dabei die genetische Diagnostik - beachtenswert ist hier unter anderem der grundlegende Beitrag von Sigrid Graumann, aber auch in vielen der übrigen Beiträge werden mit der Gendiagnostik verbundene ethische Fragen im Hinblick auf „Nichtwissen“ thematisiert. Disziplinär für Mediziner-/innen und Medizinethiker-/innen relevant sind Beiträge zur vorgeburtlichen Diagnostik (Bogner), die auf qualitative Interviews gestützte Untersuchung zu Ethik-Komitees und Ethikkommissionen (Wagner/Atzeni) und die Untersuchung Claudia Peters zu „Ungewissheiten“ im Zusammenhang mit früh- und frühstgeborenen Kindern. Peter widmet sich - wie viele der anderen Beiträge empirisch grundiert - den Herausforderungen, die die Geburt eines „Frühchens“ insbesondere an Eltern und beteiligte Ärzt/-innen stellt, hinsichtlich der Ungewissheit und des ‚Wartens‘. Deutlich wird dabei auch, wie neue Techniken ethische Fragen mit sich bringen. Dorett Funcke thematisiert die ethische Dimension der „anonymen Samenspende“. Hervorzuheben ist auch die gestalterische Qualität des Bandes: Es handelt sich um ein ‚schönes‘ Buch, eine Hardcover-Ausgabe, bei der Mühe auf das Lektorat verwendet wurde und so die inhaltlich durchgehend sehr guten Beiträge in einer ansprechenden Sprache präsentiert werden und gleichzeitig - dem interdisziplinären Charakter des Buches angemessen - Interessierten unterschiedlicher Spezialisierungen ein flüssiges Leseverständnis ermöglicht wird. Kurz: Eine Empfehlung.
Heinz-Jürgen Voß
➤ Claudia Peter, Dorett Funcke (Hrsg.): Wissen an der Grenze: Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin. Campus (2013), 506 Seiten, 39,90 Euro, ISBN 978-3-593-39869-3.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
219
vom September 2013
Seite 44

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