Epigenetik als molekulare Bio-Graphie

Ambivalenzen eines aufstrebenden Paradigmas

Epigenetik ist das Facebook der heutigen Biowissenschaften. Sie fasst die individuelle Biographie als eine Liste abrufbarer molekularbiologischer Eintragungen auf. Dabei besteht wieder einmal die Gefahr, dass Gesellschaft und Psychisches biologisiert werden.

Epigenetik wird oft als Wiederkehr des Lamarckismus diskutiert, scheint sie doch mit der Grundannahme neodarwinistischer Evolutionstheorie zu brechen, dass erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden. Bedeutender ist jedoch, dass die epigenetischen Studien das zentrale Dogma der Molekulargenetik in Frage stellen. Nach dem zentralen Dogma bestimmt die DNA, was in der Zelle abgeht. Die DNA erscheint als absolutistischer Monarch. Das hat sich inzwischen gründlich geändert. Der Gedanke, dass umgekehrt auch Zellmechanismen die Aktivität und Organisation der DNA beeinflussen, ist indes keine Erfindung des Genomzeitalters. EmbryologInnen und EntwicklungsgenetikerInnen haben schon sehr früh argumentiert, dass die Vorstellungen der molekularen Genetik zu einfach sind. Die heutige Epigenetik nimmt diese Kritik wieder auf und hilft, die Wechselbeziehungen zwischen Genom und Physiologie ein Stück weiter aufzuklären. Doch der gegenwärtige Bruch mit dem lange gehegten Dogma bedeutet nicht das Ende aller Biologismen. Die Komplexität, die die Epigenetik in das Bild der Genomforschung bringt, geht einher mit einer noch mächtigeren Betonung biologischer Körperlichkeit. Alle im Laufe des Lebens gemachten Erfahrungen finden sich auf molekularer Ebene in die eigene Biologie eingeschrieben. Nach dem genetischen Schicksal wird nun ein mit Biomarkern gespicktes physiologisches Schicksal postuliert.

Von der Epigenesis zur Epigenetik

Im Wort „Epigenetik“ klingt Epigenesis nach, ein Begriff aus den Anfängen der biologischen Forschung. Epigenese galt lange als Gegenkonzept zur Präformation. Während die Verteidiger der Präformationslehre von einer vollständigen Vorgeformtheit des Organismus in der Ei- oder Samenzelle ausgingen, vertraten die Anhänger der Epigenesis-Theorien die Annahme, dass sich die physiologischen Strukturen des ausgewachsenen Organismus erst in seiner Embryonalentwicklung ausbilden. Im 18. Jahrhundert fand die Epigenesis-Theorie viele Anhänger. Der Umschwung kam erst mit dem genetischen Determinismus ab 1900. Die Gene, hieß es nun, steuern die Entwicklung des Organismus. Mitte des 19. Jahrhunderts regte sich gegen diese Sichtweise Widerspruch. Der englische Entwicklungsgenetik-Pionier Conrad Hal Waddington prägte in den vierziger Jahren das Wort Epigenetik („epigenetics“). Er wollte damit einen neuen Zweig der Biologie begründen, der aufklären sollte, wie die Wechselwirkungen zwischen genetischen und nicht-genetischen Faktoren - zum Beispiel Hormonen, Nährstoffen oder Temperatur - den Phänotyp aus dem Genotyp hervorbringen. Waddington interessierte sich besonders für die Stabilität von Entwicklungsprozessen und prägte hierfür das Konzept der Chreode. Demnach entwickelt sich der Organismus entlang von Entwicklungspfaden, die Gene und Umwelt im Zusammenspiel kanalisieren. Wesentlich dabei ist, dass sich der Organismus ständig in einem dynamischen Gleichgewicht befindet, das Veränderung bei gleichzeitiger Stabilität der Prozesse ermöglicht. Waddington veranschaulichte seine Vorstellung mit der eingängigen Metapher einer „epigenetischen Landschaft“. Mit seiner „Entwicklungsepigenetik“ wandte er sich in den fünfziger Jahren explizit gegen den Reduktionismus der klassischen Genetik wie der aufkommenden molekulargenetischen Forschung. Waddingtons Arbeiten wurden Jahrzehnte lang ignoriert, da sie nicht in das vorherrschende Bild vom alles bestimmenden genetischen Code passten. Ebenso erging es denjenigen, die die heute in der Epigenetik beforschten Mechanismen zuerst entdeckten. Es sei nur an Barbara McClintocks Studien zu Transposons („springenden Genen“) aus den vierziger und fünfziger Jahren erinnert. Oder an Christiane Nüsslein-Vollhards Gradiententheorie, wonach Stoffgradienten in der Eizelle und in den embryonalen Zellen die Genexpression und Zelldifferenzierung steuern. Die gegenwärtige Epigenetik greift diese Erklärungsversuche unter molekulargenetischen Vorzeichen neu auf. Sie bedient sich dabei der diversen Omics-Technologien: von Microrarrays über Sequenzierungsverfahren bis hin zu multivariater Statistik und Computer-Simulation.

Epigenetik und biomedizinische Intervention

Die molekulargenetische Epigenetik untersucht nicht nur die Mechanismen, die die Genexpression regulieren. Aufsehen haben in den neunziger Jahren vor allem Studien erregt, die zeigten, dass solche Eingriffe in die Genaktivität molekulare Spuren hinterlassen und dass diese Spuren über Zellteilungen an nachfolgende Zellgenerationen weitergegeben - „vererbt” - werden.1 Die Epigenetiker gehen davon aus, dass die unterschiedlichsten Umweltfaktoren Einfluss auf die Chromatin-Struktur, DNA-Methylierungsprozesse und RNA-Interferenzen haben. Ein Beispiel sind die in den Medien viel zitierten Versuche von Randy Jirtle und Robert Waterland an mit Tendenz zu „Fettleibigkeit“ und gelber Fellfarbe gezüchteten Mäusen, die diese 2003 in Molecular Cell Biology veröffentlichten. Die Versuche zeigten, dass Ernährung in einer frühen Phase der Embryonalentwicklung die Regulation, die DNA-Methylierung, und damit die Genaktivität beeinflusst. Diese für den heutigen Epigenetik-Hype bahnbrechenden Versuche waren ohne den Rückgriff auf Technologien und Verfahren, die aus der Genomforschung stammen, nicht denkbar: 1. der Verwendung von eigens für die biomedizinische Forschung erzeugten Modell-Organismen - in diesem Fall den so genannten Agouti-Mäusen - und 2. dem Einsatz neuester Sequenzierungstechnologien. Die Erwartung wird deshalb geäußert, dass mithilfe der Omics-Technologien das epigenetische Wissen soweit ausgebaut werden kann, dass es auch für gezielte biomedizinische Interventionen nutzbar wird. Das Versprechen ist, die Körperchemie in relevanten Zellgruppen während entscheidender Entwicklungsphasen zu verändern und damit das „genetische Schicksal“ - epigenetisch - umkehrbar zu machen. Um die Komplexität der beteiligten Prozesse zu erfassen, werden in epigenetischen Studien immer häufiger riesige Datenmengen für einzelne Zelllinien produziert und mit Hilfe von Modellrechnungen im Computer und Netzwerktheorien ausgewertet. Nicht mehr lineare Kausalketten, sondern simulierte Modelle hoch verzweigter Interaktionssysteme mit Knotenpunkten und Feedback-Schleifen sind das Ergebnis solcher Berechnungen. Die Modelle der dagegen sehr konkret an einzelnen Mechanismen orientierten molekulargenetischen Epigenetik der neunziger Jahre weichen einem neuen Trend hin zu einer „systemischen Epigenetik”. Annahmen linearer Kausalität zwischen Stoffwechselmolekülen und Genexpression werden erst nachträglich in die Netzwerkmodelle eingetragen. Sie sind es dann aber, die als Ergebnis präsentiert und über die Forschungsgelder akquiriert werden.

Neuroepigenetik von Gedächtnis und Trauma

Eines der aufstrebenden Spezialgebiete der Epigenetik ist die Neuroepigenetik. Das Forschungsinteresse richtet sich besonders auf die Rolle von epigenetischen Mechanismen bei der Entstehung von Demenz, Alzheimer und Autismus. Daneben interessieren sich NeuroepigenetikerInnen auch für das einfache Funktionieren von Neuronen. In Mäuse- und Rattenexperimenten wird die Beteiligung epigenetischer Mechanismen an synaptischer Plastizität, neuronaler Vernetzung und Gedächtnis beforscht.2 Bei der Suche nach möglichen äußeren Einflussfaktoren spielt Stress eine besonders prominente Rolle in der Neuroepigenetik. Im Jahr 2005 berichteten die Forscher Michael Meaney und Moshe Szyf in der Zeitschrift Trends in Neuroscience von einem Einfluss des Nestpflegeverhaltens von Ratten auf DNA-Methylierungsmuster und die physiologische Stressreaktion. Isabelle Mansuy und ihre Arbeitsgruppe an der Universität Zürich berichteten 2010 in der Zeitschrift Biological Psychiatry von einer Versuchsreihe an Mäusen, deren Ergebnisse auf einen Zusammenhang zwischen frühkindlichem Stress (ausgelöst durch die Trennung von der Mutter), ängstlichem Verhalten, veränderter Genexpression im Gehirn und veränderten DNA-Methylierungsmustern hinwiesen. Beide Studien legen nahe, dass frühkindlicher Stress die Genexpression im Gehirn verändert. Seitdem wird intensiv nach epigenetischen Folgen sowohl frühkindlicher Traumatisierung als auch posttraumatischer Belastungsstörungen etwa bei Kriegsveteranen gesucht.3 Da Untersuchungen beim Menschen nur indirekt - an Blutzellen oder Hirngewebe post-mortem - möglich sind, konnten Kausalzusammenhänge bisher nicht nachgewiesen werden. Epigenetische Mechanismen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie sich von Zelltyp zu Zelltyp unterscheiden. Langfristiges Ziel dieser Forschung ist es, psychopharmakologisch wirksame Stoffe zu bestimmen, die Traumafolgen lindern oder gar verhindern helfen. Am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München sind erste Studien hierzu bereits in Arbeit. Traumatisierung wird hierbei als physiologische Stressreaktion interpretiert, die molekulare Veränderungen in den entsprechenden Hirnzellen produziert. Das subjektive Erleben wird demgegenüber in solchen Studien vernachlässigt und damit auch der für die Betroffenen meist wesentliche Unterschied, ob Schrecken und Gewalt von einer Naturkatastrophe, einem Unfall, einer anderen Person oder sogar einer staatlichen Institution ausgingen. Der Unterschied zwischen Tsunami und Folter wird eingeebnet.

Epigenetik als molekulare Bio-Graphie?

Die systemische Epigenetik ermöglicht es, die vielfältigen molekularbiologischen Folgen der individuellen Biographie in riesigen Datensätzen abzubilden und vergleichbar zu machen. Da liegt es nah, gesellschaftliche Strukturen und ihre Auswirkungen auf die Einzelnen molekularbiologisch zu untersuchen. Das macht Epigenetik attraktiv für Theorien, die versuchen, einen Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Körperlichkeit zu denken. Die Erwartung ist mithin, dass die Epigenetik eine Soziologisierung der Biologie befördert und in diesem Sinne nutzbar ist, wie es Kerstin Palm mit ihrer genderbezogenen epigenetischen Embodiment-Forschung vorschlägt (siehe GID 212). Oder ist eher eine Molekularisierung unseres Körpers und unserer Lebensumwelt zu befürchten, wie Jörg Niewöhner warnt?4 Das Beispiel Traumaerfahrung lässt sich in beiderlei Hinsicht interpretieren: Es kann als Berücksichtigung der körperlichen Folgen eines gesellschaftlichen Ereignisses - des Traumas durch seelische und körperliche Gewalt, Vergewaltigung und Krieg im Kindes- oder Erwachsenenalter - verstanden werden. Die Aufmerksamkeit für niedrigschwellige Formen psychischer Belastungen wie wiederholte Diskriminierung und deren gesundheitliche Folgen, die auch Kerstin Palm anspricht, könnte sich erhöhen. Doch würde dies um den Preis einer Physiologisierung und Molekularisierung von Trauma geschehen. In Situationen, in denen eine Traumatisierung gerne bezweifelt wird, wie bei Schmerzensgeldklagen oder Asylantragsverfahren, könnte der Nachweis epigenetischer Veränderungen zukünftig zur Voraussetzung gemacht werden. Der Fokus auf Biomarker könnte dazu verleiten, psychologische durch pharmakologische Interventionen zu ersetzen. Die Folge wäre eine Medikalisierung des Traumas. Gesellschaftliche Strukturen wirken in den meisten Fällen gerade nicht direkt auf uns und unsere Biologie, auch wenn diese Art des Sozialdeterminismus in Sozialisationstheorien gerne angenommen wird. Das, was ein gesellschaftliches Ereignis erst zu einer individuellen Erfahrung macht, ist die subjektive, psychische Bedeutung für die Einzelnen. Nicht zuletzt gestalten wir unsere Biographie und unsere Lebensbedingungen aktiv mit. Eine epigenetische Folgenforschung unterliegt der Gefahr, diese aktiv-subjektive Dimension des Biographischen aus dem Blick zu verlieren. Neuroepigenetik wird vermutlich einige der Mechanismen aufklären, die zwischen Genexpression und Neurophysiologie vermitteln und psychischer Entwicklung, Gedächtnis, Lernen und auch psychischen Beeinträchtigungen zugrunde liegen. Vielleicht kann sie auch bestätigen, dass ein gutes soziales Umfeld, gute Lern- und Lebensbedingungen und die Abwesenheit von existenzieller Bedrohung wesentliche Bedingungen für die physiologische Entwicklung des Gehirns sind. Das Beispiel des Traumas zeigt jedoch, dass dieses Wissen mit einer Biologisierung der gesellschaftlichen und der psychischen Dimensionen unserer Biographie einhergehen kann.

  • 1R. Holliday: Epigenetics comes of age in the twentyfirst century, Journal of Genetics, 81(1), April 2002, S. 1-4.
  • 2J. Gräff u. a., Epigenetic Regulation of Gene Expression in Physiological and Pathological Brain Processes, Physiological Review, 91, April 2011, S. 603–649.
  • 3J. A. Rusiecki u. a., DNA methylation in repetitive elements and post-traumatic stress disorder: a case-control study of US military service members, Epigenomics., 4(1), Feb. 2012, S. 29-40; R. Yehuda & L. M. Bierer, The relevance of epigenetics to PTSD: implications for the DSM-V, Journal of Traumatic Stress, 22(5), Oct. 2009, S.427-34.
  • 4J. Niewöhner, Epigenetics: Embedded bodies and the molecularisation of biography and milieu, BioSocieties, 6, 2011, S. 279–298.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
213
vom September 2012
Seite 33 - 35

Vanessa Lux ist Diplom-Psychologin und forscht im Projekt „Kulturelle Faktoren der Vererbung“ zum Verhältnis von Epigenetik und Psychologie (siehe: www.zfl-berlin.org).

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