Was ist schon „normal“?
Ethische Denkanstöße zu Normalitätsvorstellungen
Normalitätsvorstellungen beeinflussen bioethische Diskurse. Auch in der Humangenetik spielen sie eine große Rolle. Wichtig ist ein Bewusstsein für ihre Veränderlichkeit, Kontextabhängigkeit und Mehrdeutigkeit, sagt der Deutsche Ethikrat.
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In Debatten um zentrale gesellschaftliche Themen begegnet uns oft die Einschätzung, etwas sei „normal“ oder werde als „normal“ angesehen. Oft erscheint sie wie eine Tatsachenbehauptung. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass Normalitätsvorstellungen (oder auch -unterstellungen) sowohl normativ voraussetzungs- als auch folgenreich sind. Der Deutsche Ethikrat liefert mit seinem hier vorgestellten Impulspapier „Normalität als Prozess“ Denkanstöße zu den vielschichtigen Beziehungen zwischen Normalität und Normativität.1
Normalität als ethisch relevante Kategorie
Die Rede über „Normalität“ ist sowohl in alltäglichen als auch in wissenschaftlichen Kontexten allgegenwärtig. Dabei wird der Begriff höchst unterschiedlich verwendet und verstanden. Häufig ist „das Normale“ einfach das als üblich, vertraut oder selbstverständlich Wahrgenommene. In der Statistik dient die Gaußsche Normalverteilung2 zur Charakterisierung eines Durchschnittsbereichs, wobei auch hier Normalität nicht einfach vorgefunden wird, sondern das Ergebnis subtiler Normierungen ist. Offensichtlich ist der normative Gehalt von Äußerungen wie „Das ist doch nicht normal!“, die nicht selten sogar mit regelrechter moralischer Empörung vorgetragen werden. „‘Normalität‘ ist also, kurz gesagt, kein bloßer Deskriptions-, sondern ein Relations- und Orientierungsbegriff, der in unterschiedlichen Dimensionen und mit variabler normativer Reichweite verstanden wird. Je nach Bezugspunkt kann er mehr oder weniger affirmativ oder kritisch verwendet werden“ (S.18).
Die (bio-)ethische Relevanz von Normalitätsvorstellungen lässt sich beispielhaft an der Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit verdeutlichen, die häufig explizit oder zumindest implizit auf Normalität Bezug nimmt. Auch hier zeigt sich die Verschränkung deskriptiver und normativer Elemente. So mag man mit statistischen Verfahren für unterschiedliche Populationsgruppen ein Durchschnittsgewicht bestimmen. Aber welches Körpergewicht für wen „normal“ ist und wo die Bereiche „krankhaften“ Über- oder Untergewichts beginnen, kann nicht ohne normierende Setzungen beantwortet werden. Dabei verändern sich die Vorstellungen zum Normalgewicht offenbar im Lauf der Zeit und sie haben klare normative Konsequenzen, wenn es etwa um die Erstattungsfähigkeit therapeutischer Maßnahmen gegen die Adipositas geht.
In seinem Impulspapier geht der Deutsche Ethikrat den Verflechtungen zwischen Normalität und Normativität noch in einer Reihe weiterer lebenswissenschaftlicher Anwendungsfelder nach. So ist die Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit beispielsweise im psychiatrischen Bereich notorisch umstritten: Bis zu welchem Punkt etwa kann Traurigkeit als normal gelten und ab wann ist es sinnvoll, eine traurige Person als depressiv zu betrachten? Vorstellungen dazu, welche Formen des Alterns und welche Lebensentwürfe im Alter als normal gelten können, lassen die Variabilität von Normalitätsvorstellungen besonders klar hervortreten. So wird die frühere vorwiegend defizitorientierte Sichtweise des Alters zunehmend von positiven Altersbildern abgelöst, die die Fähigkeiten und Potenziale älterer und auch hochbetagter Menschen in den Fokus rücken. Die wachsende Macht digitaler Medien analysiert der Ethikrat exemplarisch anhand von Körperbildern. Beispielsweise steht die Bodypositivity-Bewegung für das Aufbrechen problematischer Körperideale, die als Bezugspunkt wiederum Normalitätsvorstellungen – etwa hinsichtlich des Körpergewichts – haben. In diesem Artikel werden im Folgenden die Überlegungen des Ethikrates zur „genetischen Normalität“ mit den zugehörigen Anwendungen im Bereich der prädiktiven Medizin etwas eingehender dargestellt.
Normalität des genetisch Abnormen
Der Deutsche Ethikrat tritt zunächst biologisch unhaltbaren Vorstellungen entgegen, es gebe mit Bezug auf das menschliche Genom so etwas wie eine objektiv beschreibbare genetische Normalität in einem starken Sinn. Zwar lassen sich bezogen auf Sequenzvarianten einzelner Gene in einer Population „Normalallele“ (Allele bezeichnet unterschiedliche Varianten desselben Gens) bestimmen, die deren statistisch häufigste und mit einer typischen Genfunktion assoziierte Ausprägungsformen repräsentieren. Auch gibt es in dem Sinn „pathologische Allele“, dass bestimmte Mutationen eindeutig die Genfunktion beeinträchtigen. „Dazwischen gibt es aber eine große Breite an objektiv messbaren, aber hinsichtlich ihrer funktionellen Bedeutung nicht klar interpretierbaren sogenannten VUS (Varianten unklarer Signifikanz)“.3
Gänzlich unmöglich ist es sodann, einen umfassenden „Normalstatus“ für das mehr als 20.000 Gene umfassende Humangenom zu definieren. Hier wäre ein hohes Maß an Einheitlichkeit schon aus evolutionsbiologischer Sicht gar nicht sinnvoll, weil eine große Vielfalt genetischer Varianten in einer Population ihrer gesundheitsbezogenen Resilienz förderlich ist. Ist auf dieser Ebene Diversität die Norm, gilt auf Ebene des Individuums, dass es sogar normal ist, „in einzelnen Aspekten der biologischen Konstitution abnorm zu sein“ (S.38). Dies hängt damit zusammen, dass vermutlich jeder Mensch Träger*in der Anlagen für mehrere sogenannte schwere Erbkrankheiten4 ist, was meist nur deshalb nicht auffällt, weil diese autosomal-rezessiv vererbt werden.5 Gezielte Aufklärung über diese „Normalität des genetisch Abnormen“ könnte nach Ansicht des Ethikrates „eine sozial protektive Wirkung gegen die Diskriminierung des sichtbar Anderen entfalten.“6
Prädiktion und Prävention
Das Beispiel der genetischen Diagnostik verdeutlicht, in welchem Maße eine Normalisierungsdynamik durch technologische Entwicklungen angestoßen werden kann. Denn erst in Folge verbesserter molekulargenetischer Analyseverfahren sinken die Kosten für das Erheben genetischer Informationen so weit, dass sich Anwendungen wie die vollständige Exomsequenzierung (also eine Sequenzierung aller protein-kodierenden Bereiche im gesamten Genom) oder ein Bevölkerungsscreening auf genetische Erkrankungen finanziell realisieren lassen. Sinnvoll könnten solche Anwendungen vor allem dann erscheinen, wenn sich durch genetische Frühdiagnostik bestimmte Krankheiten gänzlich verhindern oder wenigstens erheblich abmildern ließen. Aber auch dann wäre der mögliche Nutzen abzuwägen gegen problematische gesellschaftliche Folgen wie etwa die entstehenden Kosten für das Gesundheitssystem sowie gegen individuelle Lasten, beispielsweise durch das Wissen um teils in ferner Zukunft liegende und durch Präventionsmaßnahmen nicht vollständig vermeidbare Krankheitsrisiken.
Kinderwunsch und Schwangerschaft: NIPT
Im Fall des nicht invasiven Pränataltests (NIPT), bei dem genetische Merkmale des Ungeborenen mittels einer Blutprobe der schwangeren Person bestimmt werden, ist die angesprochene Normalisierungsdynamik bereits weiter fortgeschritten als etwa hinsichtlich von bevölkerungsweiten Carrier-Screenings auf Heterozygotie für rezessive erbliche Erkrankungen.7 Einen maßgeblichen Schub hat diese Dynamik im Jahr 2022 durch die Aufnahme von NIPT in das Angebotsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten. In der Folge zeichnet sich ein erheblicher Konformitätsdruck auf werdende Eltern ab „mit einer empfundenen Umkehr der Begründungslast von der Inanspruchnahme des Tests zum Verzicht auf diesen.“8 Dabei mangelt es leider häufig an einem klaren Bewusstsein dafür, dass auch die umfangreichste genetische Diagnostik während der Schwangerschaft niemals ein „gesundes Kind“ garantieren kann.
Im Rahmen des hier vorgestellten Impulspapiers kann der Deutsche Ethikrat nur auf die Normalisierungsmacht hinweisen, die bereits einzelne Ärzt*innen ausüben, die werdende Eltern zur Anwendung von NIPT und zum Thema Schwangerschaftsabbruch bei auffälligem Befund beraten. Noch größere Verantwortung tragen in diesem Zusammenhang medizinische Fachgesellschaften, wenn sie beispielsweise Kriterien für „abnorme“ Genvarianten formulieren oder gar konkrete Kataloge pränatal mitteilenswerter oder sogar -pflichtiger Eigenschaften erstellen. Auch die weiterführende Frage, welche Folgen sich aus den geschilderten Entwicklungen für gesellschaftliche Vorstellungen zum Leben mit Behinderung ergeben, kann der Ethikrat nur aufwerfen, nicht jedoch angemessen beantworten.
Normalität zwischen Orientierung und Konflikt
Zum Schluss ein Auszug aus dem Resümee des Deutschen Ethikrates: „Es bedarf – in Politik, Wissenschaft, Medien und der Gesellschaft insgesamt – verstärkter Aufmerksamkeit darauf, dass Normalitätsdefinitionen und der ihnen zugrunde liegende normative Anspruch zwischen gesellschaftlichen Perspektiven divergent und über die Zeit Veränderungen unterworfen sind. Darüber hinaus sollte insbesondere in Institutionen des Bildungs- und Gesundheitswesens sowie in (sozialen) Medien besser über Normalisierungsdynamiken und ihre positiven wie potenziell negativen Folgen aufgeklärt werden“ (S.68).
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Dieser Artikel basiert auf dem Impulspapier „Normalität als Prozess“ des Deutschen Ethikrates, Herbst 2024, online: www.ethikrat.org/publikationen/stellungnahmen/nor…. Sofern nicht anders ausgezeichnet, beziehen sich alle Seitenangaben im Fließtext auf dieses Impulspapier.
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Die Gaußsche Normalverteilung wird auch „Glockenkurve“ genannt und ist ein zentrales Konzept in der Statistik. Sie beschreibt die symmetrische Verteilung von Daten links und rechts um einen Mittelwert herum.
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S.37, mit Verweis auf Richards, S. et al. (2015): Standards and Guidelines for the Interpretation of Sequence Variants: A Joint Consensus Recommendation of the American College of Medical Genetics and Genomics and the Association for Molecular Pathology. In: Genetics in Medicine, 17, 5, S.405-424, www.doi.org/10.1038/gim.2015.30
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Zur Problematik der Definition einer „schweren Erbkrankheit“ siehe Kleiderman, E. et al. (2024): Unpacking the notion of “serious” genetic conditions: towards implementation in reproductive decision-making? In: European Journal of Human Genetics, www.doi.org/10.1038/s41431-024-01681-0
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S.38, mit Verweis auf Bell et al. (2011): Carrier testing for severe childhood recessive diseases by next-generation sequencing. In: Science Translation Medicine, 3, 65, www.doi.org/10.1126/scitranslmed.3001756
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S.38, mit Verweis auf Henn, W. (2006): Zur Normalität des genetisch Abnormen. In: T. May, A/Söling, C (Hg): Gesundheit, Krankheit, Behinderung: Gottgewollt, naturgegeben oder gesellschaftlich bedingt? Bonifatius-Verlag, S.39-46
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Varianten eines Gens (Allele) können bei bestimmten Erbgängen „dominant“ oder „rezessiv“ sein. Dominante Allele setzen sich in der Ausprägung eines Merkmals gegenüber rezessiven Allelen durch. Eine rezessiv vererbte Krankheit tritt demnach nur dann in Erscheinung, wenn das maßgebliche Allel von beiden Eltern vererbt wird, es also reinerbig (homozygot) vorliegt. Liegen die Allele gemischterbig (heterozygot) vor, erkrankt das Kind selbst nicht, es kann das die Krankheit vererbende Allel aber an seine Nachkommen vererben. Mit Carrier-Screenings kann das Vorliegen solcher rezessiver Allele nachgewiesen werden.
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S.42, mit Verweis auf Rehmann-Sutter, C./Timmermans, D.R.M./Raz, A. (2023): Non‑invasive prenatal testing (NIPT): is routinization problematic? In: BMC Medical Ethics, 24, 7, S.1-11, www.doi.org/10.1186/s12910-023-00970-5
Dr. Lilian Marx-Stölting ist wissenschaftliche Referentin in der Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates.
Dr. Thorsten Galert ist wissenschaftlicher Referent in der Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates.
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