Frühscreening in der Schwangerschaft?
Zur Zeit wird sowohl in der Fach- als auch in der Laienpresse das so genannte Ersttrimester- oder Frühscreening in der 10. bis 12. Schwangerschaftswoche propagiert. Im Unterschied zu anderen Untersuchungen der Schwangerenvorsorge hat dieses Screening keinerlei therapeutische Konsequenzen, sondern zielt ausschließlich auf die Vermeidung der Geburt von Kindern mit bestimmten Merkmalen. Das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik erhebt Einspruch gegen eine solche Selektion. Wir dokumentieren die im September veröffentlichte Stellungnahme.
Das sogenannte Ersttrimesterscreening umfasst eine gezielte Ultraschalluntersuchung mit Messung der Nackentransparenz des Ungeborenen sowie Untersuchungen des Blutes der Frau auf bestimmte Hormonwerte. Auf diese Weise soll bereits in der 10. bis 12. Schwangerschaftswoche die statistische Wahrscheinlichkeit von chromosomalen und organischen Fehlbildungen errechnet werden. Als Ergebnis erhält die Frau eine "Risikoabschätzung", wie hoch in ihrem individuellen Fall die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Ungeborene eine solche Fehlbildung hat. Ab einem gesetzten Richtwert wird ihr eine weiterführende Pränataldiagnostik empfohlen, eine Chorionzottenbiopsie, eine Fruchtwasseruntersuchung und/oder spezielle Ultraschalluntersuchungen; je nach Befund könnte sie danach mit der Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch konfrontiert sein.
Gründe gegen das Frühscreening
Wir wenden uns aus folgenden Gründen gegen die Etablierung eines Frühscreenings:
- Die Zielsetzung des Frühscreenings ist ausschließlich selektiv. Dies als "Qualitätsverbesserung" in der Schwangerenvorsorge darzustellen, halten wir für falsch. Während sich bei der bisher üblichen vorgeburtlichen Diagnostik auch Befunde mit therapeutischen Konsequenzen ergeben können, erfolgt das Frühscreening ausschließlich mit der Begründung, späte Abbrüche zu vermeiden. Dabei wird jedoch nicht das Ziel des selektiven Abbruchs in Frage gestellt, es soll nur der Zeitpunkt vorverlegt werden beziehungsweise Frauen sollen so frühzeitig Informationen über das Ungeborene erhalten, dass sie einen eventuellen Abbruch nicht erst an der Grenze zur Lebensfähigkeit durchführen lassen. Beim Ersttrimester-Screening können zwar auch zum Beispiel Herzfehler, Spaltbildungen und andere Beeinträchtigungen festgestellt werden; soweit diese jedoch Auswirkungen auf eine gute Versorgung während oder nach der Geburt haben, lassen sie sich auch noch bei der in den Mutterschaftsrichtlinien vorgesehenen Ultraschalluntersuchungen in der 19.- 22. Woche erfassen. Geworben wird für das Frühscreening mit dem Hinweis auf "Qualitätsverbesserung" der Schwangerenvorsorge und mit der Angst vor Behinderung. Qualitätsverbesserung meint die Erhöhung der "Entdeckungsraten" von Ungeborenen mit bestimmten Merkmalen, vor allem mit einer Trisomie 21. "Erfolgsraten" beziehen sich folgerichtig auf die Vermeidung der Geburt solcher Kinder.
- Das Ersttrimesterscreening widerspricht unserem Verständnis von einer frauenbezogenen und psychosomatisch orientieren Schwangerenvorsorge. Es konfrontiert Frauen/Paare zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit einem technischen, distanzierenden Umgang mit Schwangerschaft. Durch das Frühscreening wird bereits ab der 10. Schwangerschaftswoche nach Normabweichungen gefahndet und die Schwangerschaft wird von Anfang an aus einseitig medizinisch-technischem Blickwinkel betrachtet. Der beurteilende Blick von außen erfordert von der schwangeren Frau gleich zu Beginn ihrer Schwangerschaft eine Distanzierung von dem Ungeborenen. Für Frauen/Paare reduziert sich die Zeitspanne, in der sie sich erst einmal offen auf die neue Lebenssituation einlassen können. Als Ergebnis des Ersttrimesterscreenings werden schwangere Frauen mit einem "Risikowert" konfrontiert, der auf Statistiken und Wahrscheinlichkeitsberechnungen beruht und nichts mit ihrer realen Lebenssituation zu tun hat. Der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten ist normalerweise nicht geübt. Nur die wenigsten schwangeren Frauen und ihre Partner, nicht selten nicht einmal die damit argumentierenden Mediziner/innen, können eine "Risikozahl" umsetzen und mit der Möglichkeit falsch positiver oder falsch negativer Ergebnisse verständlich umgehen. Viele verlieren bei einer Werbung mit hohen "Entdeckungsraten" den Blick dafür, dass fast alle Kinder, auch nach einem auffälligen Screening-Ergebnis, gesund auf die Welt kommen. Ambivalenzen in der Schwangerschaft und die verständliche Sorge von Frauen, ob alles gut geht, setzen sich aus vielfältigen, individuellen, gesellschaftlichen und sozialen Faktoren zusammen. Das Screening instrumentalisiert und kanalisiert diese Sorgen und Ängste zu einem frühen Zeitpunkt in der Schwangerschaft durch die Fokussierung auf das "Risiko Behinderung". Es behindert den Arzt/die Ärztin darin, individuelle Ängste und Probleme der schwangeren Frau wahrzunehmen und zu thematisieren.
- Die als Ersttrimesterscreening propagierte Untersuchungen erfüllen nicht die wissenschaftlichen und ethischen Anforderungen und Qualitätsstandards, die an ein Screening zu stellen sind. Die Messung der Nackentransparenz erfordert viel Erfahrung; geringe Messfehler oder falsche Angaben zur genauen Dauer der Schwangerschaft wirken sich auf die Risikoberechnung aus und erhöhen die falsch positiven wie falsch negativen Befunde. Es gibt keine ausreichenden prospektiven Studien über die Spezifität und Sensitivität der Untersuchungen. 5 – 20 Prozent der getesteten Frauen (falsch-positiv-Rate) werden in Angst versetzt und unterziehen sich in der Folge überflüssigen invasiven Eingriffen, die sie körperlich und psychisch und mit dem Risiko einer Fehlgeburt belasten. Screenings in der Gesundheitsversorgung werden im allgemeinen mit den sich ergebenden therapeutischen Möglichkeiten gerechtfertigt. Im Fall der Früherkennung einer Erkrankung gibt es keine Maßnahmen, die zu einem besseren Versorgungsergebnis führen könnten, die einzige Handlungsmöglichkeit sind weitere, invasive Untersuchungen zur Überprüfung des Befundes und gegebenenfalls der Abbruch der Schwangerschaft. Der Begriff "Screening" wird missbraucht, um das Ziel der Selektion positiv zu ummänteln. Wenn ein Screening, das heißt eine Einbeziehung aller Schwangeren, sinnvoll wäre, was wir bestreiten, müsste der Ersttrimestertest in den Mutterschaftsrichtlinien festgeschrieben und von den Kassen bezahlt und die Anwendung von den Standesorganisationen kontrolliert werden. Durch die Verbreitung des Angebots als Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) ist dieses der öffentlichen Kontrolle weitgehend entzogen.
- Eine eingehende Aufklärung und Beratung über die angebotenen Tests, Voraussetzung für eine informierte Entscheidung der schwangeren Frau, ist in der gynäkologischen Praxis schwer möglich und zu diesem frühen Zeitpunkt in der Schwangerschaft auch eher kontraproduktiv. Ein Ergebnis des vom Netzwerk in Auftrag gegebenen "Rechtsgutachtens zur Betreuung schwangerer Frauen nach Mutterschaftsrichtlinien" ist, dass die informierte Zustimmung der Frau bei jeder diagnostischen Maßnahme der Schwangerenvorsorge erforderlich ist. Sinn der Messungen ist ja, dass der schwangeren Frau ab einem bestimmten Wert weitere Untersuchungen empfohlen werden und sich in deren Folge die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch stellen kann. Das Erfordernis der informierten Zustimmung gilt auch für nicht-invasive Untersuchungen wie die Messung der Nackentransparenz und erst recht für Bluttests, die andernfalls eine Körperverletzung darstellen. Die weitreichenden Konsequenzen der Untersuchungen müssten der Frau/dem Paar vor dem Früh-screening und unter Einhaltung einer Bedenkzeit, also in der 8.-10. Schwangerschaftswoche, umfassend dargelegt und ihre Zustimmung eingeholt werden. Eine solche umfangreiche Aufklärung und Beratung ist in der Routine der Gynäkologie schon aus Zeitgründen nicht möglich. Da diese Tests als zusätzliche, privat zu zahlende Gesundheitsleistungen angeboten werden, ist eine zeitintensive Beratung der Frau/des Paares, die dann gesondert bezahlt werden müsste, auch nicht im Interesse der behandelnden ÄrztInnen. Außerdem stehen zu diesem frühen Zeitpunkt sowohl für die schwangere Frau als auch die begleitende ÄrztIn andere Themen im Vordergrund. Das Ersttrimesterscreening ist eine Zumutung für die betroffenen Frauen. Was sie zu diesem frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft brauchen, ist Ermutigung zu einer positiven Einstellung zu ihrer Schwangerschaft und ihrer künftigen Rolle, nicht aber eine frühe Verdinglichung des Ungeborenen und den Hinweis auf mögliche invasive Untersuchungen mit der Konsequenz eines Schwangerschaftsabbruchs. Das Ersttrimesterscreening ist aber auch eine Zumutung für die ÄrztInnen und stellt sie vor berufsethische Konflikte. Nicht nur in bedauerlichen Ausnahmefällen sondern bei allen Schwangeren und von Anfang an wird ihre Schwangerenvorsorge unter das Vorzeichen der Selektion gestellt.
- Die Einführung des Ersttrimesterscreenings hat nicht die schwangeren Frauen und deren Gesundheit im Blick, sondern verfolgt vor allem ökonomische Interessen. Verkaufsstrategien in der Schwangerschaft, die sich auf die Angst vor Behinderung beziehen, halten wir für einen Skandal. Mit Sorge stellen wir fest, dass das Frühscreening nicht auf der Basis einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung und nicht durch die Spitzenorganisationen der Ärzteschaft und Krankenkassen, sondern durch einen privaten Verein entwickelt und mit marktstrategisch ausgefeilten Methoden durchgesetzt wird. Profitieren werden davon nicht die Frauen, die den Test zudem privat bezahlen sollen, sondern eine Vielzahl von beruflichen Gruppierungen aus den Bereichen Labormedizin, Datenverarbeitung, Geräteherstellung, Softwarevertrieb, Zertifizierung und Fortbildung, Werbung sowie die zertifizierten ÄrztInnen, die den Test als IGeL-Leistung anbieten dürfen. Dabei geht es um viel Geld. Bei der gewünschten flächendeckenden Versorgung aller schwangeren Frauen stehen ca. 700.000 Kundinnen pro Jahr zur Verfügung. Argwöhnisch werden wir, wenn bisher angepriesene Verfahren in der Schwangerenvorsorge jetzt kritisiert werden, um den "Markt" für die neueren "besseren" Verfahren zu schaffen und zu erweitern. Ablehnend reagieren wir, wenn verschiedene Interessengruppen sich aus wirtschaftlichen Überlegungen verbinden, um ein Verfahren zu verbreiten, dessen Nutzen fragwürdig und dessen Absicht ethisch zu verurteilen ist. Wir halten die Koppelung von Marktinteressen mit Appellen an Ängste vor Behinderung in der Schwangerschaft für unverantwortlich.
Die Unterzeichnenden verfolgen aus ethischen und gesellschaftspolitischen Überzeugungen das Ziel, dass alle selektiven Untersuchungen aus der allgemeinen Schwangerenvorsorge herausgenommen werden. Schwangere müssen ihre Schwangerschaft "guter Hoffnung" erleben können, ohne dass ihnen Diagnosen aufgedrängt werden. Wir fordern die Spitzenorganisationen der Ärzteschaft und Krankenkassen und den Gesetzgeber auf, dafür Sorge zu tragen, dass die Spirale von Angebot und Nachfrage in der Schwangerenvorsorge nicht noch vorangetrieben wird. Wir ermutigen Frauen und Paare, ihren eigenen Weg im Umgang mit der neuen Situation Schwangerschaft zu suchen, und Ärztinnen, sich der Zumutungen immer neuer selektiver Verfahren zu widersetzen.
Das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik ist ein Netzwerk von Expertinnen und Experten. Es besteht aus Einzelpersonen und Institutionen aus der Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung, aus Gynäkologie und Geburtshilfe, der Bildungsarbeit, Politik und Wissenschaft. Zum Netzwerk gehören Behindertenverbände und Gruppen der Behindertenselbsthilfe.
Was ist der Verein für die Förderung der Pränatalmedizin?
Für die Verbreitung des Angebots des Frühscreening wurde 2002 der "Verein zur Förderung der Pränatalmedizin FMF (Fetal Medicine Foundation) Deutschland" gegründet. Er bietet "Zertifizierungskurse" an, in denen sich FrauenärztInnen für das Screening qualifizieren können; nur dann erhalten sie die für diese Untersuchungen und Berechnungen notwendige Ultraschall-Software. Die dazugehörigen Blutproben der Schwangeren müssen in bestimmten vom FMF zertifizierten Labors untersucht werden. Das Ersttrimesterscreening, gelegentlich auch "Down-Screening" genannt, gehört nicht zum Standard der Schwangerenvorsorge, wie er in den Mutterschaftsrichtlinien festgelegt ist. Dennoch soll es allen Schwangeren als selbst zu zahlende Leistung angeboten werden. Entsprechend wird es als eine besonders gute Vorsorge, die die Kassen den Frauen aus Kostengründen vorenthalten, beworben und empfohlen. Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik
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