Das Ende der Debatte? Im Gegenteil!

Regelungsbedarfe im Kontext des NIPT

Seit Juli 2022 ist der Nicht-invasive Pränataltest (NIPT) auf Trisomien Kassenleistung. Viele dachten, das Thema sei damit vom Tisch. Tatsächlich hat die zivilgesellschaftliche Diskussion durch den Praxisstart aber eher zugenommen und auch im Bundestag könnte es die Pränataldiagnostik endlich wieder auf die politische Agenda schaffen.

NoNIPT Übergabe

Corinna Rüffer, Elias Nies, Silke Koppermann, Tina Sander, Vera Bläsing und Claudia Heinkel übergaben die Forderungen. Foto: © #NoNIPT

Aufgrund der vagen Formulierungen in den Mutterschafts-Richtlinien (Mu-RL) und der Versicherteninformation des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) prognostizieren medizinische Fachverbände eine so große Inanspruchnahme des Bluttests auf die Trisomien 13, 18 und 21 durch Schwangere, dass es de facto zu einem vorgeburtlichen Screening auf das Down-Syndrom kommen wird. Diese Form der Reihenuntersuchung hatten sowohl der G-BA im Bewertungsverfahren als auch eine Großzahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestags in der Orientierungsdebatte zu Pränataldiagnostik 2019 explizit abgelehnt. Kritiker*innen des NIPT als Kassenleistung hatten immer wieder auf diese Problematik hingewiesen und den Gesetzgeber zum Handeln aufgefordert. Nun hat sich im Juli, kurz nach dem Praxisstart des Trisomie-Tests als Kassenleistung, eine interfraktionelle Gruppe zu Pränataldiagnostik gegründet. In einem kurzen Artikel des Ärzteblatts war Ende Juli zu lesen: „Manche seien der Ansicht, die Debatte um Zulassung und Nutzung solcher Screenings sei damit beendet. ‚Das stimmt nicht‘, so die Abgeordneten [der interfraktionellen Gruppe].“1

Nachdem das Thema Pränataldiagnostik im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung nicht einmal Erwähnung fand, scheint es nun, wo der kassenfinanzierte NIPT auf Trisomien mit sehr schwammiger Indikation Praxis ist, ein Bewusstsein für die Relevanz und Komplexität der Thematik zu geben. Im September kam es zu einem Treffen von Mitgliedern der interfraktionellen Gruppe mit Vertreterinnen des #NoNIPT Bündnisses und des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik. Bei diesem konstruktiven Kennlern- und Austausch-Treffen überreichten die Bündnismitglieder eine Stellungnahme mit den im Folgenden erläuterten Regelungsbedarfen, die im Zuge des langjährigen Bewertungsverfahrens des G-BA sichtbar wurden.2

Gesetze für Angebots- und Zugangsregelungen

Der NIPT hat technisch gesehen ein nahezu unbegrenztes Leistungsspektrum. Neben den Tests auf Trisomien werden derzeit Tests auf weitere Chromosomenbesonderheiten als Selbstzahler*innenleistungen angeboten. Diese suchen beispielsweise nach geschlechtschromosomalen Genvarianten wie dem sog. Turner- oder Klinefelter-Syndrom oder nach Mikrodeletionssyndromen wie dem DiGeorge-Syndrom.3 Angekündigt sind Tests auf weitere genetische Besonderheiten, auf Krankheiten und Behinderungen, die sich erst in der übernächsten Generation manifestieren können oder auch lediglich auf Krankheitsdispositionen wie etwa für Diabetes mellitus Typ 1. Es liegt in der Verantwortung des Gesetzgebers zu entscheiden, ob das, was technisch möglich ist, auch auf den Markt gebracht werden darf und welche spezifischen Zugangsregelungen es bei den Nicht-invasiven Pränataltests geben soll. Angesichts der Brisanz der Tests kann er dies nicht weiter dem freien Markt und den Gewinnmaximierungsinteressen der Herstellerfirmen überlassen. Wir sehen den Gesetzgeber umso mehr in der Verantwortung, weil zu befürchten ist, dass die Kassenzulassung des NIPT auf Trisomien einen Präzedenzfall schafft und andere Anbieter insbesondere mit Gleichheitserwägungen für die Kassenfinanzierung ihrer Tests argumentieren werden.4 In diesen Kontext gehört auch die Frage, ob der Staat weiter Steuermittel für die Entwicklung solcher Tests bereitstellen soll, die ohne therapeutische Konsequenzen bleiben.5

Monitoring der Beschlussumsetzung

Der Finanzierungsbeschluss des G-BA vom 19.09.2019 nimmt als medizinische Indikation für die Kassenleistung allein die subjektive Besorgnis der schwangeren Person vor einem Kind mit Trisomie. Er öffnet damit weit die Tür zu einem – angeblich nie beabsichtigten – allgemeinen Screening auf Trisomien; und zwar in erster Linie auf die Trisomie 21 (Down-Syndrom).6 Deshalb ist ein Monitoring zur Umsetzung dieses Beschlusses dringend geboten. Dies ist auch erforderlich, um belastbare Daten z.B. über die in den Mu-RL geforderte ausführliche medizinische Beratung zu erhalten, über die Zusammenarbeit mit psychosozialen Beratungsstellen und der Selbsthilfe oder über die auch von der Ärzt*innenschaft befürchtete Zunahme der Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen nach § 218a StGB nach einem auffälligen Testergebnis. Aufgrund der Erfahrungen in der Peer-to-Peer-Beratung halten wir die Evaluierung der Beratungsqualität und -quantität für erforderlich, sowohl was die Einhaltung der Vorgaben des Gendiagnostikgesetzes (GenDG) und des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) betrifft, als auch die Art und Qualität der übermittelten Informationen an die werdenden Eltern.

Bewertungskriterien und Entscheidungsgremium

Der G-BA hat im Bewertungsverfahren zum NIPT wiederholt darauf hingewiesen, dass er medizinische Leistungen lediglich medizinisch-technisch prüfen könne. Die ethische und gesellschaftspolitische Bewertung sei die Aufgabe des Gesetzgebers. Sie sei bei diesem Test dringend erforderlich, weil er „fundamentale ethische Grundfragen unserer Werteordnung“ berühre.7 Der Gesetzgeber müsse sich auch mit Blick auf weitere medizinische Innovationen bei Gentests positionieren.8 Wir halten es für erforderlich, dass das Angebot von und der Zugang zu solchen Tests gesetzlich geregelt und nicht der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen überlassen werden. In der Orientierungsdebatte des Deutschen Bundestags am 11. April 2019 zu vorgeburtlichen genetischen Tests hat der jetzige Bundesgesundheitsminister diese Einschätzung des G-BA aufgegriffen und mit Verweis „auf künftige Tests auf fast jede erdenkliche Erkrankung“, die bereits in Erprobung seien, vorgeschlagen, ein neues Bewertungsverfahren und ein neues Gremium mit „Ethikern, Wissenschaftlern, Soziologen und Psychologen“ zu installieren.9 Dieser Vorschlag ist aus Sicht der kritischen Zivilgesellschaft ausdrücklich zu begrüßen: Ein solches Gremium könnte den Gesetzgeber fachlich-inhaltlich beraten und sicherstellen, dass eine ethische und gesellschaftspolitische Bewertung vorgeburtlicher Tests erfolgt. In diesem Gremium müssten neben Vertreter*innen der genannten Professionen auch zwingend Betroffene und ihre Familien sowie kritische Stimmen der Zivilgesellschaft Sitz und Stimme erhalten.10

Verbraucher*innenschutz

Die Herstellerfirmen und Anbieter von vorgeburtlichen genetischen Tests suggerieren in ihren Hochglanzflyern, auf ihren Homepages und in den sozialen Medien, es gebe einen Zusammenhang zwischen ihrem Test und einem gesunden Baby.11 Sie tragen mit dieser Werbestrategie wesentlich dazu bei, dass solche Suchtests von den Konsument*innen – zumal in der besonders vulnerablen Phase zu Beginn der Schwangerschaft – als sinnvoll und normal nachgefragt werden. Es sollte geprüft werden, wie einem solchen Vorgehen als bewusste Täuschung von Verbraucher*innen Einhalt geboten werden kann. Überprüft werden sollte auch, ob die aktuell zu beobachtende Werbung für einen Test auf eine spezifische Form der Chromosomenbesonderheit wie dem Down-Syndrom rechtlich zulässig ist. Ggf. ist eine Änderung des Heilmittelwerbegesetzes (HWG) zu diskutieren, um die Werbung für NIPT auf die Trisomien 13, 18 und 21 außerhalb von Fachkreisen zu unterbinden.

Datenschutz

Im Juli 2021 wurde bekannt, dass die chinesische Firma BGI Group genetische Daten von Schwangeren und Föten aus übriggebliebenen Blutproben des NIPT aus ihrem Labor in Hongkong für Bevölkerungsforschung einsetzt und dazu mit dem chinesischen Militär kooperiert.12 In Deutschland vertrieb die Firma Eluthia diesen Test unter dem Namen Previa-Test. Ärzt*innen und Schwangere müssen sicher sein können, dass sensible genetische Daten nicht unerlaubt für andere Zwecke verwendet werden. Die Datenschutzregelungen sind nicht nur in China, sondern bspw. auch in USA deutlich freizügiger als in Europa. Es braucht daher im Zusammenhang mit vorgeburtlichen Tests eine gesetzliche Regelung gegen ungerechtfertigten Datenabfluss, insbesondere ins außereuropäische Ausland.

Beratung löst kein gesellschaftliches Dilemma

In den Debatten um die Kassenzulassung des Tests wurde vielfach auf die Bedeutung der ärztlichen und psychosozialen Beratung hingewiesen. Es hatte fast den Anschein, als ob Beratung ein Ausweg aus dem gesellschaftspolitischen Dilemma sei, dass die Solidargemeinschaft einen Test ohne medizinischen Nutzen und mit hohem Diskriminierungspotenzial – insbesondere für Menschen mit Down-Syndrom – finanziert. Die Beratung ist unverzichtbar, um Individuen in einer existentiell konfliktreichen Situation beizustehen, wie sie auffällige Testergebnisse fast zwangsläufig auslösen, und um sie bei der Suche nach einer eigenen Entscheidung zu unterstützen, mit der sie auch in Zukunft werden leben können. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, die zu befürchtenden Auswirkungen dieser Kassenleistung könnten „wegberaten“ werden!

Unterstützungsangebote und Inklusion

Die Angst der werdenden Eltern vor einem Kind mit Behinderung ist groß. Diese Angst der Eltern ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft – und sie ist begründet: Familien mit Kindern mit Behinderung können ein Lied singen von den Mühen um einen Platz für ihr Kind und für sich in unserer Gesellschaft. Auch wenn sich in den letzten Jahren einiges getan hat, wir sind noch weit entfernt von gleichwertigen Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen und für deren Eltern. Eltern leiden nicht unter ihrem Kind mit Behinderung. Sie leiden an der gesellschaftlichen Haltung gegen ihr Kind mit Behinderung! Der NIPT auf Trisomien ist kein Test gegen die Angst der Eltern und kein Test auf dem Weg zu einer inklusiveren Gesellschaft. Durch die Entscheidung des G-BA, dass der NIPT künftig von der Solidargemeinschaft finanziert wird, wird diese gesellschaftliche Haltung – Kinder mit Down-Syndrom sind vermeidbar – noch mehr bekräftigt werden. Wir wünschen uns, dass der Gesetzgeber deutliche Zeichen gegen diese Bilder setzt, durch eine Regelung vorgeburtlicher Tests ohne medizinischen Nutzen wie durch eine Ausgestaltung von Rahmenbedingungen für ein gutes Leben für alle. Wir wünschen uns, dass der Gesetzgeber Sorge trägt für eine kritische Information und Aufklärung der Gesellschaft zu diesen umstrittenen Tests und dass er die dringend nötige parlamentarische und gesellschaftliche Debatte organisiert. In dieser Debatte müssen die kritischen zivilgesellschaftlichen Verbände, Vereine und Organisationen zu Wort kommen und vor allem müssen auch Menschen mit Behinderungen und ihre Familien daran beteiligt werden – und zwar auf Augenhöhe.

Zahlreiche Abgeordnete bezeichneten in ihren Redebeiträgen von 2019 die Orientierungsdebatte als Beginn einer wichtigen und umfassenden Diskussion, die es im Kontext von Pränataldiagnostik über gute Bedingungen für reproduktive Selbstbestimmung, persönliche Entscheidungen werdender Eltern und Inklusion dringend brauche. Neben der interfraktionellen Arbeitsgruppe zu Pränataldiagnostik wird wohl auch die geplante Kommission zu reproduktiver Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin nicht um eine Verhandlung des Themas umhinkommen, wenn es darum geht, alternative Regelungsmöglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuchs zu prüfen. Hier muss es auch um Abtreibungen nach auffälligen NIPT-Ergebnissen und pränatalen Diagnosen gehen. Diese ausformulierten Regelungsbedarfe des #NoNIPT Bündnisses liefern viele Ansatzpunkte für eine Wiederaufnahme der politischen Diskussion zum Thema Pränataldiagnostik – hoffentlich werden sie aufgegriffen.

  • 1Ärzteblatt (2022): Abgeordnetengruppe zu Pränataldiagnostik hat sich konstituiert. Online: www.kurzelinks.de/gid263-th. Siehe hierzu auch „Interfraktionelle Gruppe zu Pränataldiagnostik“ unter Kurz notiert in diesem Heft, S.29.
  • 2Die hier redaktionell bearbeiteten, in Auszügen vorgestellten Regelungsbedarfe können in vollem Umfang, so wie sie an die interfraktionelle Gruppe übermittelt wurden, online eingesehen werden: www.kurzelinks.de/gid263-tr.
  • 3Der Testanbieter Cenata hat inzwischen die Suche nach Mikrodeletionen wie dem DiGeorge-Syndrom wegen der hohen Zahl an falsch-positiven Testergebnissen wieder aus ihrem Angebotskatalog gestrichen. Cenata (2022): Wegfall der Testoption Mikrodeletion 22q11.2 (DiGeorge-Syndrom). Online: www.kurzelinks.de/gid263-ti.
  • 4Der Testanbieter Eluthia hat bereits im Herbst 2019 angekündigt, sie werde für ihren Test auf Mukoviszidose die Kassenfinanzierung beantragen. LABORWELT (2019): „Risikoarm diagnostizieren“ Dr. Ramón Enríquez Schäfer im Interview. In: transcript, 4.2019, S.62-64. Online: www.kurzelinks.de/gid263-tj.
  • 5Vgl. Könninger, S./Braun, K. (2017): Pränataltest für Trisomie 21. Unternehmensfreundliche Regelung. In: taz, online: www.kurzelinks.de/gid263-tk.
  • 6Für die Trisomien 13 und 18 ist der Test medizinisch nicht erforderlich, weil die Hinweise im Ultraschall auf diese Chromosomenbesonderheiten so auffällig sind, dass statt einer Wahrscheinlichkeitsberechnung eine diagnostische Abklärung angezeigt ist.
  • 7Joseph Hecken, Vorsitzender des G-BA, in einem Antwortschreiben an Abgeordnete des Deutschen Bundestags am 19.08.2016, online: www.kurzelinks.de/gid263-to.
  • 8Joseph Hecken:„Wenn wir es als Gesellschaft ernst meinen und klare gesetzliche Regeln für den Umgang mit nicht invasiver Pränataldiagnostik als sinnvoll erachten, muss sich das Parlament angesichts der sich stets weiterentwickelnden Innovationen dieser ethisch-moralischen Frage stellen.“ Ärzteblatt (2021): NIPT: G-BA beschließt Informationen für Schwangere. Online: www.kurzelinks.de/gid263-tl.
  • 9Siehe Deutscher Bundestag (2019): Plenarprotokoll 11317-11318. Online: www.kurzelinks.de/gid263-tm.
  • 10Das Bündnis #NoNIPT hat im Februar 2022 den Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach angeschrieben und ihn gebeten, in der von ihm in der Orientierungsdebatte 2019 vorgeschlagenen Richtung aktiv zu werden.
  • 11Siehe die „Elterninformation“ von Herstellerfirmen und Anbietern wie z.B. LifeCodexx (Konstanz, www.life-codexx.de) oder Cenata (Tübingen, www.cenata.de/der-harmony-test/).
  • 12Vgl. Bartram, I. (2022): Fehlerhafte Pränataltests. Online: www.kurzelinks.de/gid263-tn.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
263
vom November 2022
Seite 34 - 36

Taleo Stüwe ist Mediziner*in und Mitarbeiter*in des GeN.

zur Artikelübersicht

Nur durch Spenden ermöglicht!

Einige Artikel unserer Zeitschrift sowie unsere Online-Artikel sind sofort für alle kostenlos lesbar. Die intensive Recherche, das Schreiben eigener Artikel und das Redigieren der Artikel externer Autor*innen nehmen viel Zeit in Anspruch. Bitte tragen Sie durch Ihre Spende dazu bei, dass wir unsere vielen digitalen Leser*innen auch in Zukunft aktuell und kritisch über wichtige Entwicklungen im Bereich Biotechnologie informieren können.

Ja, ich spende!  Nein, diesmal nicht