Genetisches Risiko
Diskriminierung nach Gentest – Einzelfälle oder Routine?
Das Gendiagnostikgesetz verbietet Versicherungen Informationen über genetische Veranlagungen zu berücksichtigen. Mehrere Betroffene berichten jedoch, dass sie von privaten Krankenversicherungen aufgrund eines Gentests abgelehnt wurden oder Risikozuschläge zahlen mussten.
Die Hallesche Krankenversicherung in Stuttgart. Foto: Vu-alt-ah
Bereits 2015 schilderte Uta Wagenmann im Gen-ethischen Informationsdienst (GID) den Fall einer Frau, deren Antrag auf eine private Krankenversicherung aufgrund eines genetischen Risikos für Thrombosen von einer privaten Versicherung abgelehnt wurde. Seitdem melden sich immer wieder Menschen beim Gen-ethischen Netzwerk (GeN), die ähnlichen Erfahrungen berichten. In einem aktuellen Fall erfuhr Dr. Volkmar Storch (Name geändert) nach einer Internet-Recherche durch den GID-Artikel davon, dass er Opfer von genetischer Diskriminierung sein könnte. Erst durch das Hinzuziehen eines Anwalts konnte er sich gegen die illegale Praxis des Versicherungskonzerns zur Wehr setzen.
Als Dr. Storch 2001 eine Versicherung bei der Hallesche Krankenversicherung abschloss, gab sein Versicherungsvertreter im Antrag an, dass bei ihm eine „heterozygote APC-Resistenz genetisch durch einen prädiktiven Test“ festgestellt wurde. APC steht für „aktiviertes Protein C“. Protein C ist ein in der Leber produziertes Enzym, dass die Blutgerinnung hemmt, indem es Gerinnungsfaktoren im Blut spaltet und damit inaktiviert. Bei Menschen mit einer bestimmten Genvariante im Gerinnungsfaktor Faktor V kann das Protein C diesen nicht mehr zerteilen. Die Gerinnungsaktivität des Blutes von Menschen mit einer sog. Faktor-V-Leiden-Mutation (benannt nach der Stadt Leiden, wo der Zusammenhang erstmals beschrieben wurde) ist daher erhöht und Betroffene neigen – durchschnittlich – eher zu Thrombosen. Festgestellt wird die Mutation funktionell oder molekulargenetisch. Bei Dr. Storch wurde zunächst ein funktioneller Test durchgeführt, dabei wird im Labor aktiviertes Protein C zu einer Blutprobe hinzugegeben und die Gerinnungsaktivität beobachtet. Laut Arztbrief deutete das Testergebnis auf eine „heterozygote (mischerbige) Vererbung der Mutation des Faktor-V-Gens“ hin, das tatsächliche Vorliegen der Genvariante sei laut Arzt jedoch nur durch eine molekulargenetische Untersuchung abschließend feststellbar. Ein entsprechender Gentest wurde anschließend durchgeführt und tatsächlich eine heterozygote Faktor-V-Mutation bei Dr. Storch gefunden.
Gentest mit finanziellen Folgen
Als der Vertrag mit der Versicherung zustande kam, gab es in Deutschland noch keinen gesetzlichen Schutz vor genetischer Diskriminierung. Erst 2010 trat das Gendiagnostikgesetz (GenDG) in Kraft um genau das zu verhindern, was Dr. Storch passierte: „Ergebnissen oder Daten aus bereits vorgenommenen genetischen Untersuchungen oder Analysen“ darf eine Versicherung laut GenDG weder verlangen noch „entgegennehmen oder verwenden“. Die Hallesche schlug jedoch einen „versicherungsmedizinischen Zuschlag“ auf die Versicherungsprämie: 37 Euro zahlte Dr. Storch zunächst mehr, bis 2023 stieg der Zuschlag auf stattliche 190 Euro zusätzlich pro Monat. Doch ein genetisches Risiko ist erstmal nur das: ein Risiko, keine Diagnose. Da bei Dr. Storch nur eine Kopie des Faktor-V-Gens betroffen ist, ist seine Thromboseneigung im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung zwar leicht erhöht, doch ob er jemals an einer Thrombose erkranken wird ist völlig unklar – bis heute ist er nicht daran erkrankt. Wie er der Versicherung in einer E-Mail Anfang 2023 mitteilte, hatte er den Test im Jahr 2000 machen lassen, nachdem seine Mutter in dem Jahr eine Lungenembolie erlitt. „Wie Sie aus den Arztbriefen ersehen können, liegt bei mir nur eine milde Thromboseneigung vor. Ich bin also nicht krank, ich habe nur ein leicht erhöhtes Thromboserisiko, wie 20 Prozent der Bevölkerung.“ schrieb Dr. Storch und forderte die seit 2001 bezahlten Zusatzbeiträge zurück, sowie den Entfall des Risikozuschlags in der Zukunft.
Die Hallesche lehnte diese Forderung ab. Einerseits führt das Antwortschreiben aus, dass das GenDG bei Vertragsabschluss noch nicht gegolten hätte. Nach Einschätzung des Juristen und ehemaligen Datenschutzbeauftragten von Schleswig-Holstein Dr. Thilo Weichert ist dies jedoch irrelevant, denn der § 18 GenDG regelt „nicht nur das ‚Verlangen‘ von Gentests, sondern auch das ‚Verwenden‘.“ Eine aktuelle Nutzung eines älteren Gentests sei eine Verwendung, so Dr. Weichert. Des Weiteren argumentierte die Versicherung, dass das GenDG sowieso nicht gelten würde, denn die zunächst durchgeführte Gerinnungsuntersuchung sei keine Gendiagnostik. Aufgrund der positiven Familienanamnese für Thromboembolien hätte zudem eine Anzeigepflicht bei Vertragsabschluss bestanden. Die festgestellte APC-Resistenz könne nie ausheilen, daher sei es irrelevant ob Dr. Storch jemals selber eine Thrombose hatte. Abschließend appellierte der profitorientierte Versicherungskonzern noch an Dr. Storchs soziales Gewissen: er solle Verständnis dafür haben, dass ein Entfall der Zusatzprämie auch aufgrund der Gleichbehandlung aller Versicherten und im Interesse des Versichertenkollektives nicht möglich sei.
Dr. Storch ließ sich jedoch nicht beeindrucken und beauftragte einen Rechtsanwalt. Dieser wies in einem Schreiben an die Hallesche darauf hin, dass der Umstand, dass die APC-Resistenz heterozygot vorliegt, nur durch einen Gentest bestimmbar war, es sich also um einen durch einen Gentest festgestelltes Merkmal handele, das laut GenDG von der Versicherung nicht berücksichtigt werden darf. Auch für den Datenschutzexperten Dr. Weichert gehört die Bestätigung eines Verdachtsbefunds mittels DNA-Analyse, wie in diesem Falle passiert, zu den „genetische Untersuchungen“ für die das GenDG gilt.
In ihrer Antwort beteuerte die Hallesche zwar weiterhin die Rechtmäßigkeit des Risikozuschlags, aber verzichtete seltsamerweise dennoch darauf, diesen in Zukunft zu verlangen. Das war Dr. Storch und seinem Anwalt jedoch nicht genug, sie drohten mit der Ausschöpfung aller rechtlichen Mittel, um auch die vergangenen zu viel gezahlten Beiträge erstattet zu bekommen. Mit Erfolg: Die Hallesche knickte im September 2023 ein und erstattete nach einem außergerichtlichen Vergleich die bis zur Verjährung zu viel bezahlten Beträge in Höhe von 4.000 Euro zurück. Ob sich die Versicherung so vor einem Gerichtsprozess drücken wollte, der andere Betroffene auf die Problematik aufmerksam machen würde und einen juristischen Präzedenzfall schaffen könnte, kann nur spekuliert werde.
Betroffene wissen nicht von ihren Rechten
Auch 13 Jahre nach Verabschiedung des GenDG sind potenzielle Neukund*innen von privaten Versicherungen von der diskriminierenden Praxis betroffen. Im gleichen Monat in dem Dr. Storch den Vergleich mit seiner Versicherung verhandelte, meldete sich eine Person beim GeN, die wegen einer Faktor-V-Leiden-Mutation von zwei privaten Krankenkassen abgelehnt worden war. Wie Dr. Storch war Michaela Wels (Name geändert) durch den Bericht von 2015 auf der GeN-Webseite darauf gekommen, dass dies möglicherweise nicht rechtens war. Wels berichtete, dass sie in ihren Anträgen ihre heterozygote Faktor-V-Leiden-Mutation angegeben hatte. Die erste Versicherung hätte keinen Grund für die Ablehnung genannt, die zweite schrieb jedoch „aufgrund Ihres Gesundheitszustandes kann kein Versicherungsvertrag zustande kommen“ und verwies auf eine „partielle APC-Resistenz“ der Betroffenen. Wie diese berichtete, empfand sie durch die Erfahrung eine große Belastung – obwohl sie sich als Ärztin medizinisch auskenne, hätte sie sich „diskriminiert gefühlt“ da sie „sterbenskrank zu sein scheine“ und ihr niemand einen Versicherungsschutz anbieten könne. Fast hätte sie diese Behandlung widerspruchlos akzeptiert. Doch nach Kenntnis ihrer Rechte legte Wels schriftlichen Widerspruch ein und bekam daraufhin eine Zusage zu einer privaten Versicherung zu den Standard-Konditionen angeboten. Doch nicht nur Betroffene wissen über ihre Rechte kaum Bescheid, auch einige Mediziner*innen scheinen uninformiert und beraten Patient*innen falsch oder gar nicht. So suchte eine Person letztes Jahr Rat vom GeN in einer E-Mail: ihr Sohn habe von seinem Hausarzt den Hinweis bekommen, dass er seine symptomlose heterozygote Faktor-V-Leiden-Mutation bei Abschluss einer privaten Krankenversicherung hätte angeben müssen. Eine weitere Person berichtete uns, dass sie vor einer Genanalyse zur eventuellen Feststellung einer Thromboseneigung von der verantwortlichen Ärztin gar nicht zu ihren Rechten und Risiken aufgeklärt wurde wie eindeutig vom GenGD vorgesehen. Kurz vor der Blutentnahme hätte sie durch das Einwilligungsformular überhaupt erst davon erfahren, dass es sich um eine DNA-Analyse handelte. Ihre Frage an die Arzthelferin nach dem GenDG hätte diese nicht beantworten können. Die Analyse ließ die Betroffene trotzdem machen, da sie nicht als „schwierige Patientin“ wirken wollte.
Genetischer Datenschutz gewinnt an Bedeutung
Diese anekdotischen Erfahrungen ersetzen selbstverständlich keine systematische Untersuchung, um zu bestimmen, ob es sich bei den von den Betroffenen geschilderten Erfahrungen mit genetischer Diskriminierung um Einzelfälle oder um eine häufige illegale Praxis von Versicherungskonzernen handelt. Die letzten Forschungen zu genetischer Diskriminierung in Deutschland wurden im Jahr 2015 publiziert. Seitdem fehlt es an Untersuchungen, wie das GenDG in Deutschland umgesetzt wird, in der ärztlichen Diagnostik sowie seitens Arbeitgeber, Versicherungen und weiteren privatwirtschaftlichen Akteur*innen.
Seit der vollständigen Sequenzierung des menschlichen Genoms im Humangenomprojekt vor 20 Jahren arbeiten Forschende weltweit daran, den Zusammenhang zu Erkrankungen zu Genvarianten aufzuklären. Die Zahl von kleinen Abweichungen in der DNA-Sequenz, denen in Studien Risiken für das Auftreten bestimmter Erkrankungen zugeordnet wurde, wächst beständig. Alle Menschen tragen vermutlich Genvarianten in ihrem Genom, die rein statistisch mit Erkrankungsrisiken in Verbindung stehen. So wurden in einer Untersuchung von 379.768 Proband*innen in der britischen UK Biobank bei 27 Prozent mindestens eine von 1.244 als krankheitsrelevant eingestuften Genvarianten gefunden. In einer US-amerikanischen Studie, in der noch detaillierter nach Genvarianten mit Hinweisen auf eine Verbindung zu Erkrankungen gesucht wurde, waren es sogar 90 Prozent. In der soziologischen Forschung zu genetischer Diskriminierung wird von einer neuen Kategorie der „asymptomatische Kranken“ gesprochen, Menschen die keine oder noch keine Krankheitszeichen aufweisen, aber aufgrund eines genetischen Risikos Einschränkungen in ihrer Teilhabe an der Gesellschaft erfahren.
Während (noch) nicht erkrankte Menschen vom GenDG geschützt werden, können Menschen mit existenten Krankheitssymptomen oder Behinderungen, die genetische Ursachen haben, von Versicherungen legal benachteiligt werden. Die Grenzen zwischen krank, möglicherweise zukünftig krank und gesundem Status verschwimmen jedoch einerseits dadurch, dass Symptome oft gradueller Natur sind und ihre Wahrnehmung von Diagnostikmethode und individuelle Empfindung beeinflusst sind. Und andererseits dadurch, dass prädiktive Gentests ggf. vorbeugende medizinische Maßnahmen erlauben. Soziologisch oder medizinisch betrachtet ist also gar nicht sinnvoll oder möglich, die Grenzen wer diskriminiert werden darf so eng zu ziehen, es sollte eher die Diskriminierung an sich in Frage gestellt werden. In einer deutschen Studie, die diesem Ansatz folgte zeigte sich, dass Betroffene – mit oder ohne Symptome – selber kaum Unterschiede zwischen negativen Erfahrungen aufgrund von Krankheiten und solchen aufgrund ihres genetischen Status machen. Für sie stand die Erfahrung der Diskriminierung durch Versicherungen, bei der Blutspende oder im privaten Umfeld, und die resultierenden negativen Folgen, im Vordergrund.
In Anbetracht der großen gesellschaftlichen Wirkmacht der DNA als „Wahrheitsmaschine“ ist zu erwarten, dass in Zukunft noch mehr Menschen Erfahrungen mit genetischer Diskriminierung machen müssen, wenn das Gendiagnostikgesetz auf Druck verschiedener Wirtschaftsinteressen aufgeweicht werden sollte. Studien in den USA aber auch in Deutschland zeigen, dass die berechtigte Angst vor genetischer Diskriminierung dazu führen kann, dass sich Menschen nicht genetisch untersuchen lassen, selbst wenn dies sinnvoll ist. Beim Wissen über eine erbliche Thromboseneigung können beispielsweise vorbeugend bei langen Flugreisen oder Bettlägerigkeit Maßnahmen ergriffen werden um einen Gefäßverschluss zu verhindern. Wenn Menschen genetisches Nichtwissen, aus der Befürchtung, zukünftig keine Versicherungen mehr abschließen zu können, vorziehen, kann dies fatale Konsequenzen haben.
Dr. Isabelle Bartram ist Molekularbiologin und Mitarbeiterin des GeN.
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