Biologische Intelligenz ‒ selbstlernende Systeme mit Problemlösungskompetenz

Neue Perspektiven auf Molekulargenetik, biologische Vielfalt und Evolution

Die rasanten Entwicklungen der neuen Gentechnikverfahren machen es notwendig, unser Verhältnis zur Natur neu zu denken. Dabei spielt die sog. Biologische Intelligenz (BI) eine zentrale Rolle. Im Interview mit Christoph Then vom Institut für unabhängige Folgenabschätzung in der Biotechnologie (Testbiotech) sprechen wir über sein neues Buch „Biologische Intelligenz – Über Evolution, Artenschutz und Gentechnik“. Das Gespräch führte Matthias Juhas.

Bunte Korallen unter Wasser

Im Laufe der Evolution hat die Biologische Intelligenz dazu beigetragen, dass z.B. Korallen ihre in Symbiose lebenden Algen austauschen und sich dadurch zu einem gewissen Grad an steigende Wassertemperaturen anpassen können.
Foto: Pixabay

Herr Then, mit den neuen Gentechnikverfahren wie z.B CRISPR-Cas können wir immer radikaler in die Grundlagen der Vererbung eingreifen. Durch diese tiefgreifenden und mannigfaltigen Anwendungsmöglichkeiten entstehen aber auch potenzielle neue Gefahren. In Ihrem aktuellen Buch argumentieren Sie, dass wir deshalb unser Verhältnis zur Natur dringend neu denken müssen. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Mensch und Natur und wo besteht Handlungsbedarf?

Wir alle wissen, dass die Natur, die uns umgibt, durch menschliche Aktivitäten bereits erheblich beschädigt ist. Die Veränderung der genetischen Grundlagen ist aber wohl der tiefste und am weitesten gehende Eingriff in die Natur. Das ist das ‚Ende des gemeinsamen Anfangs‘ aller Lebensformen ‒ einer Periode, die rund vier Milliarden Jahre gedauert hat. Für das Erbgut, das Genom der Arten, gibt es bisher aber keinerlei ‚Naturschutz‘. Die DNA wird eben nicht als das Ergebnis eines komplexen Lernprozesses angesehen, als gemeinsamer Speicher der Erinnerung an die Geschichte der Arten, sondern nur als ein relativ einfach aufgebautes biochemisches Molekül, das man beliebig verändern kann. Wenn wir aber wollen, dass auch nachfolgende Generationen die natürliche Artenvielfalt erleben sollen, brauchen wir wirksame Schutzmechanismen. Ob das per Naturvertrag (analog zum Gesellschaftsvertrag) klappen kann, mag bezweifelt werden. Was wir aber brauchen, ist ein genereller Schutzvorbehalt gegen Eingriffe in das Erbgut, insbesondere wenn die resultierenden Organismen in die Umwelt gelangen können. Eine Flutung der Ökosysteme mit einer großen Anzahl von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) mit möglicherweise ganz unterschiedlichen Eigenschaften muss ebenso vermieden werden, wie der massenhafte Eintrag von Pestiziden oder anderen Giftstoffen in die Umwelt.

Als Schlüsselbegriff für diese Neuausrichtung unseres Verhältnisses zur Natur schlagen Sie den Begriff der „Biologischen Intelligenz“ (BI) vor. Nun wurde Intelligenz im biologischen Kontext bisher v.a. über die Funktion neuronaler Netzwerke und das daraus resultierende Lernen definiert. Was genau ist mit BI gemeint?  

Ganz allgemein kann man Systeme, die dazu in der Lage sind, Probleme mit einer höheren Erfolgsrate zu lösen, als durch Zufall zu erwarten wäre, als ‚intelligent‘ bezeichnen. Im Buch geht es nicht um individuell erworbenes Wissen, sondern um vererbbare Intelligenz, die sich bspw. in der Art und Weise zeigt, wie das Genom organisiert ist. In einer Buchbesprechung war die Rede davon, ‚wie Gene lernen‘. Ich finde das eine ganz zutreffende Bezeichnung für diese sich selbst unbewussten Prozesse der BI: Die Evolution hat mit den heute existierenden Arten intelligente Systeme geschaffen, die die Erfahrung vorangegangener Lebensformen speichern und weitergeben und dabei auch gelernt haben, ihre zukünftige Entwicklung zu beeinflussen. Dabei lernt nicht nur die jeweilige Art mithilfe der BI die Probleme ihrer jeweiligen Umwelt effektiver zu lösen, sondern die Prozesse und Mechanismen der Evolution werden insgesamt komplexer, schneller und vielfältiger. Die Zellen (‚die Gene‘) haben ‚gelernt‘, die Evolution zu beeinflussen.

Ihrer Ansicht nach kann die Art und Weise, wie sich die BI entwickelt, als Motor und gleichzeitig als das wichtigste Ergebnis der Evolution angesehen werden. Was heißt das genau und was bedeutet das für die synthetische Evolutionstheorie? Muss diese jetzt infrage gestellt bzw. durch die aktuellen Erkenntnisse der BI ergänzt werden?

Bei der synthetischen Evolutionstheorie bleibt die Art und Weise, wie sich Gene im Laufe der Evolution wandeln, immer gleich: Die DNA mutiert per Zufall und nur die Selektion entscheidet darüber, was sich in den Populationen durchsetzt. Die Evolution erscheint so als ein blindes, taubes und dummes System, das man beliebig manipulieren und ‚verbessern‘ kann. Das zumindest schreibt Jennifer Doudna, eine der Erfinder*innen der Technologie CRISPR-Cas. Die Forschung der letzten Jahre zeigt aber immer deutlicher, dass man auf der Ebene des Erbguts tatsächlich von BI sprechen kann: Beispielsweise sind essentielle Bereiche im Erbgut durch konservierte Faktoren besonders geschützt, sie mutieren seltener als andere. Die Mechanismen und Prozesse, die zu immer neuen Problemlösungen führen, gehen in ihrer Gesamtheit weit über die Mechanismen von zufälligen Veränderungen mit nachfolgender Selektion hinaus. Dabei nimmt die BI (die Problemlösungskompetenz) der Organismen im Laufe der Evolution zu, sie werden komplexer und vielfältiger und können dadurch auch schneller ‚lernen‘. Dabei werden im Laufe der Evolution die epigenetischen Prozesse, also Mechanismen, die v.a. durch Umwelteinflüsse die Genregulation beeinflussen, immer wichtiger. Die BI organisiert sich so als selbstlernendes System, dessen Problemlösungskompetenz im Laufe der Evolution gewachsen ist und vererbt werden kann. Im Ergebnis ist die Evolution auf molekularer Ebene nicht zufällig, sie spielt mit gezinkten Würfeln, hinter denen erfolgreiche ‚Lernprozesse‘ stehen.

In Bezug auf die Koevolution, Kooperation und Kommunikation wurden vielfältige Wechselwirkungen der verschiedenen Organismen beobachtet. Daraus entwickelte sich der Begriff des Holobionten bzw. Hologenoms, der die Einbettung eines Organismus in einen festen Zusammenhang mit seiner eng assoziierten Umwelt beschreibt. Haben diese Erkenntnisse Auswirkungen auf die bisherige Evolutionstheorie, und warum ist hierbei die Entwicklung der BI für die Evolution, die Entfaltung der biologischen Vielfalt und für zukünftige Anpassungsvorgänge so wichtig?

Diese Frage betrifft u.a. den Anpassungsdruck, der aus dem Klimawandel resultiert. Die Geschwindigkeit des Klimawandels übertrifft frühere klimatische Veränderungen. Doch es gab in der Erdgeschichte ja bereits mehrfach Perioden mit wesentlich höheren oder tieferen Temperaturen. Die Mechanismen, die sich die Vorfahren heutiger Arten unter diesen früheren Klima-Extremen antrainiert haben, sind in der DNA und den Zellen (zumindest teilweise) noch als biologische ‚Erinnerung‘ vorhanden. Diese ‚Erinnerung‘ kann hilfreich sein, um die Anpassung an eine sich erneut verändernde Umwelt zu beschleunigen. Ein bekanntes Beispiel für auf Wechselwirkungen mit anderen Arten beruhende Anpassungsprozesse ist bei Korallen zu beobachten, die sich in einem gewissen Rahmen an steigende Wassertemperaturen anpassen können, indem sie ihre angestammten Symbionten (Algen und andere Mikroorganismen) gegen andere Arten austauschen. Aber auch weiter gestrickte Netzwerke wie Biene und Blüte scheinen sich unter veränderten Umweltbedingungen im Gleichtakt entwickeln zu können. Dabei können Pflanzen bspw. Informationen über geänderte Blühzeiten so an die Bienen weitergeben, dass sich infolgedessen auch die Entwicklungsprozesse im Bienenstock verändern. Diese Anpassungsmechanismen sind möglich, weil sich die Organismen seit ihren Ursprüngen gemeinsam entwickelt haben. Damit diese natürlichen Prozesse zum Tragen kommen, müssen wir den Klimawandel stoppen oder ganz wesentlich verlangsamen. Und wir müssen die Vielfalt erhalten, denn in der bestehenden Artenvielfalt liegt auch der Schlüssel für die künftigen Anpassungsprozesse.

Bei der Diskussion um die Risiken und Potentiale der neuen gentechnischen Verfahren werden bisher die Auswirkungen auf die Interaktion, die Kommunikation und die gemeinsame Weiterentwicklung von GVO und natürlichen Organismen nur sehr unzureichend untersucht. Worin sehen Sie die Gefahr z.B. für die biologische Vielfalt, wenn mittels technischer Intelligenz erzeugte GVO auf die Netzwerke der BI treffen?

Abstrakt gesprochen könnte man von Kommunikationsproblemen sprechen. Konkrete Beispiele: was passiert, wenn Korallen mit gentechnisch veränderten (gv) Algen besiedelt werden? Wie verändert das ihre natürliche Fähigkeit zur Adaption? Was passiert, wenn die Interaktion von gv-Pflanzen und Bestäubern oder Bodenorganismen gestört werden? Unsere technische Intelligenz ist dazu in der Lage, bestimmte Risiken im Hinblick auf die gewünschten Eigenschaften von GVO zu untersuchen. Wir überblicken aber weder alle Faktoren der Koevolution, noch die Mechanismen der Genomorganisation in den Zellen. Wir wissen auch nicht, welche der natürlichen Erbanlagen unter zukünftigen Umweltbedingungen besonders wichtig werden könnten. Es drohen evolutionäre ‚Mismatch-Effekte‘, die die weitere gemeinsame Entwicklung der Arten gefährden. Wir sollten vor diesem Hintergrund nicht darauf setzen, dass wir unter diesen Bedingungen mit Hilfe der Gentechnik etwas wirklich Substantielles zum Artenschutz beitragen können. Kurz gesagt: Auch die Gen-Schere ändert nichts daran, dass die gentechnischen Lösungen in Bezug auf die anstehenden Probleme unzureichend und in Bezug auf die Ökosysteme gefährlich sind.

Angesichts des fortschreitenden Artensterbens wird oft davor gewarnt, dass das Erreichen bestimmter Kipppunkte zu empfindlichen Störungen bzw. Zerstörungen von Ökosystemen führen wird. In diesem Zusammenhang sprechen Sie vom Szenario der „biologischen Demenz“, womit der Verlust der in der DNA verankerten Erfahrungen von mehreren Milliarden Jahren Evolution gemeint ist. Neben dem Artensterben können Ihrer Meinung nach aber auch Eingriffe in das Erbgut zu biologischer Demenz führen. Wo sehen Sie die Gefahren und was wären mögliche Auswirkungen?

Das Sprachbild der biologischen Demenz steht in Analogie zu einem dauerhaften Stress, der zu neuronaler Demenz führen kann. Ähnlich können auch die Ökosysteme kippen, wenn sie dauerhaft gestresst werden und die gemeinsame biologische Erinnerung der Arten nachhaltig gestört wird. Dadurch können disruptive Prozesse ausgelöst werden, die die Grundlagen für das Fortbestehen der biologischen Vielfalt zerstören. Das Problem: diese Prozesse sind zu komplex und beruhen auf zu vielen unbekannten Faktoren, um mögliche Kipppunkte tatsächlich vorhersagen zu können. Was sind die systemischen Auswirkungen der massenhaften Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen auf die Ökosysteme? Was passiert auf den Äckern, wenn dort in naher Zukunft gv-Nutzpflanzen, gv-Bakterien und gv-Insekten aufeinandertreffen? Das Vorsorgeprinzip muss angesichts unseres Nichtwissens dazu führen, dass man die Freisetzung von GVO entweder komplett verbietet oder aber zumindest strikt begrenzt. Im Moment gehen wir einen ganz anderen Weg. Wir lassen es zu, dass die Aussicht auf kurzfristige Gewinne unsere Zukunft in nie dagewesener Weise gefährdet. Alles, was die Firmen für sicher erklären und Profit verspricht, darf auch vermarktet werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

18. Februar 2022

Christoph Then ist Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation Testbiotech und Sprecher des internationalen Bündnisses No Patents on Seeds (Keine Patente auf Saatgut), www.no-patents-on-seeds.org.

zur Artikelübersicht

Das Bild zeigt das Buchcover.

Christoph Then
Biologische Intelligenz
Über Evolution, Artenschutz und die Gentechnik

ISBN: 978-3-96238-357-2
Softcover, 304 Seiten
Erschienen am 09.12.2021 im oekom Verlag
Preis: Print 19,- Euro; PDF 14,99 Euro