Genetische Überwachung
Aktuelle Entwicklungen in der Nutzung von DNA-Daten durch die Polizei
Die Verwendung von DNA durch staatliche Behörden folgt den technologischen Entwicklungen. Die neuen Technologien versprechen effiziente Verbrechensaufklärung, bedeuten jedoch gravierende Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung von immer mehr Menschen.

Foto: gemeinfrei auf flickr.com (13974807093)
Der Begriff der genetischen Überwachung dürfte generelles Unbehagen und dystopische Assoziationen bei Kritiker*innen auslösen. Befürworter*innen erscheint eine solche Überwachung hingegen als Baustein für utopische Visionen kriminalitätsfreier Gesellschaften. Anders als die Utopie im Wortsinne („Nicht-Ort“) ist die genetische Überwachung aber zunehmend weniger „Nicht-Phänomen“, sondern wird angetrieben von technologischen Fortschritten zu einer globalen Wirklichkeit.1
In Anlehnung an Machado und Granja_a lässt sich genetische Überwachung als systematische Überwachung von Einzelpersonen oder Gruppen auf der Grundlage ihrer genetischen Merkmale verstehen. Sie hat den Zweck Verbrechen aufzudecken und/oder zu rekonstruieren. Genetische Überwachung bringt also neue Möglichkeiten zur sozialen Kontrolle mit sich und fügt sich damit in ein Ensemble neuartiger3, häufig auch als digital bezeichneter Techniken der Sozialkontrolle ein.
Die Entwicklung von Technologien genetischer Überwachung lässt sich dabei in vier Wellen beschreiben4: Die ersten beiden Wellen brachten die Etablierung des DNA-Beweises zu Identifizierungszwecken im Justizsystem und den daran anknüpfenden Aufbau von DNA-Datenbanken (meistens durch die nationalen Polizeien) mit sich. Im Gegensatz dazu zeichnet sich die dritte, gegenwärtige Welle dadurch aus, dass aus DNA-Spuren selbst ermittlungslei-tende Hinweise gezogen werden können. Die reine Identifizierungsfunktion von DNA durch den Abgleich zweier Muster wird also überwunden. Schließlich ist am Horizont der gentechnischen Entwicklung eine vierte Welle erkennbar, die sich durch eine weiter verbesserte Analysetechnik auszeichnet. Gegenstand des nachfolgenden Beitrages sind insbesondere die Entwicklungen der dritten Welle, wobei die ethischen, sozialen und rechtlichen Aspekte der genetischen Überwachung aus einer strafrechtlich-kriminologischen Perspektive beleuchtet werden.
Polizeiliche Datenbanken
Zentral für die genetische Überwachung ist und bleibt die DNA-Datenbank, wie sie in Deutschland etwa in Form der DNA-Analyse-Datei (DAD) beim Bundeskriminalamt besteht. Darin sind (Stand April 2022) 836.000 Personen gespeichert – hochgerechnet sind also rund 1 Prozent der hiesigen Bevölkerung erfasst.5 Damit ist Deutschland zwar weit von Verhältnissen im Vereinigten Königreich, dem Geburtsort der DNA-Datenbank, entfernt, wo knapp 10 Prozent der Bevölkerung in der dortigen Datenbank mit ihren genetischen Daten gespeichert sein sollen.6 Allerdings ist vor allem aus transnationaler Perspektive eine Expansion der polizeilichen Nutzung von Datenbanken zu beobachten. In Europa wird mit dem Prüm-Vertrag seit 2005 der Austausch von (unter anderem) genetischen Daten zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Union vorangetrieben. Obwohl das Projekt vor technischen, rechtlichen und ökonomischen Herausforderungen steht, verbindet sich mit ihm die Hoffnung auf eine stetige Expansion der Speicherung von genetischen Profilen, hin zu einem globalen Netzwerk oder der Erfassung der gesamten Bevölkerung eines Landes in einer solchen Datenbank._b Auch wenn eine solche maximale Ausweitung in Deutschland verfassungsrechtlich, aufgrund des darin offensichtlichen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, kaum vorstellbar erscheint, zeigt sich in derartigen Visionen von Praktiker*innen bei der europäischen Strafverfolgungsbehörde doch recht eindrücklich die Tendenz des sicherheitspolitischen Diskurses. Dieser fordert umfassende Überwachungsmöglichkeiten, mit denen verdächtige Individuen und Gruppen möglichst engmaschig kontrolliert werden. Der Prüm-Datenbankverbund leistet durch das Schaffen von europaweiten Identifizierungsmöglichkeiten einen wesentlichen Beitrag dazu.
Die dritte Welle
Neben diesen Ausweitungstendenzen bestehender Technologien wie den DNA-Datenbanken sind in den letzten Jahren vor allem zwei Verfahren relevant für die genetische Überwachung geworden: die sogenannte DNA-Phänotypisierung und die genetische Genealogie. Beides sind Technologien, die der als dritten Welle bezeichneten, gegenwärtigen Entwicklung zugerechnet werden.
DNA-Phänotypisierung oder besser: die erweiterte DNA-Analyse7 meint eine Reihe von Techniken, die darauf abzielen, durch die Analyse von genetischem Material, das an Tatorten gesammelt wurde, auf äußerlich sichtbare, physische Merkmale – Augen-, Haar- und Hautfarbe – und auf die „biogeografische Abstammung“ von Verdächtigen zu schließen. Die in den frühen 2000ern aufgekommene Technologie hat mittlerweile auch ihren Weg in die deutsche Gesetzgebung gefunden. Im Rahmen der Strafverfolgung können die Ermittlungsbehörden gem. § 81e StPO seit Ende 2019 an DNA-Spurenmaterial entsprechende Untersuchungen durchführen. Die Regelungen wurden nach einer kontroversen, wenn auch nur begrenzt öffentlichkeitswirksamen Debatte eingeführt, obwohl es nach wie vor erhebliche Zweifel an der Verlässlichkeit von erweiterten DNA-Analysen gibt. Die Interpretation ihrer probabilistischen Ergebnisse gilt zudem als fehleranfällig, insbesondere, wenn sie von nicht eigens für die Fallstricke sensibilisiertem Personal durchgeführt wird. Darüber hinaus birgt das Verfahren die Gefahr der Projizierung von Verdachtsmomenten auf Gruppen, indem gruppenbezogene Merkmale wie Hautfarbe in einschlägigen Fällen dazu führen können, dass ohnehin bereits besonders im Fokus der Polizei stehende gesellschaftliche Minderheiten einem noch weiter erhöhten Kriminalisierungsdruck ausgesetzt werden.8 Auch wenn es spezifische Fälle gibt, in denen eine professionell durchgeführte, erweiterte DNA-Analyse einen bekanntermaßen unzuverlässigen Augenzeug*innen-Beweis validieren oder falsifizieren kann, erscheint die Art und Weise der Gesetzesregelung unzureichend. Diese hat die Technologie durch eine punktuelle Änderung der Strafprozessordnung eingeführt, ohne die Verfahrensanforderungen – etwa: wer soll interpretieren und wie sollen Interpretationen Eingang in die Ermittlungen finden – näher zu regeln.
Genetische Genealogie
Genealogie, also Ahnenforschung, war lange Zeit primär von wissenschaftlichem und familiengeschichtlichem Interesse. Seit einigen Jahren wird die genetische Genealogie jedoch auch als polizeiliches Ermittlungsinstrument eingesetzt – medienwirksam zuerst im Fall des sog. Golden State Killers, eines US-amerikanischen Serienmörders. Das wissenschaftliche Verfahren kann mithilfe von DNA-Mustern familiäre Verbindungslinien aufzeigen, was sich die US-amerikanischen Ermittler*innen in diesem Fall seit 2012 zunutze machten, indem sie das von verschiedenen Tatorten stammende genetische Profil des damals unbekannten Täters digitalisierten und bei einer öffentlichen Genealogie-Website hochluden. Die von Hobby-Genealog*innen betriebene Seite hat eine Community geschaffen, innerhalb derer über das Teilen des eigenen genetischen Profils verwandtschaftliche Beziehungen identifiziert werden können. Über langjährige Identifizierungsbemühungen wurde schließlich Joseph DeAngelo als Verdächtiger ins Auge gefasst und anhand eines DNA-Abgleichs überführt.9 Diese polizeiliche Maßnahme ist in Deutschland nicht zugelassen und es erscheint mit Blick auf ihre Breitenwirkung auch äußerst zweifelhaft, ob sie überhaupt in eine verfassungsgemäße Form gebracht werden könnte. Allerdings scheint nicht ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber – nach Ermittlungserfolgen in den USA, Schweden und Kanada – auch hierzulande im gegenwärtigen sicherheitspolitischen Klima einen Regelungsversuch starten könnte.
Wandel der DNA-Nutzung
Lässt sich auf den ersten Blick meinen, dass sowohl erweiterte DNA-Analyse als auch genetische Genealogie nur graduelle Weiterentwicklungen von traditioneller DNA-Identifizierung sind, so ist doch zu beachten, dass es hierbei zu einem fundamentalen Wandel der polizeilichen Nutzung von genetischen Daten kommt. Der Fokus der forensischen Wissenschaft verlagert sich von der reinen Beweisführung auf die Gewinnung von Erkenntnissen. Die Polizei ist nicht länger nur darauf bedacht, anhand eines DNA-Musters Anwesenheit am Tatort nachzuweisen. Vielmehr ist damit der Startschuss für eine breitere Nutzung der in der DNA liegenden Informationen gesetzt. Denkbar ist etwa, dass die Polizei sich auch für genetische Zusammenhänge im Kontext von Gewaltkriminalität für präventive Zwecke zu interessieren beginnt. Darüber hinaus verschiebt sich der Fokus vom einzelnen, zu identifizierenden Individuum hin zum Kollektiv und dem Verhältnis des Individuums zu diesem. So führt etwa die (vermeintliche) Identifizierung einer bestimmten Hautfarbe im Rahmen einer erweiterten DNA-Analyse zu Verdachtsmomenten gegenüber ganzen Gesellschaftsgruppen.
Noch im Wesentlichen spekulativ, aber dennoch bereits in der Diskussion, ist die Ausweitung der Anwendung des sogenannte Next-Generation-Sequencing: Durch die Steigerung der informationellen Kapazitäten und Potentiale von Gen-Sequenzierungstechnologie kann damit bereits aus vergleichsweise kleinen DNA-Spuren ein hoher Informationsgehalt gezogen werden. Zu den potenziellen Vorteilen für die Ermittlungsarbeit gehören eine höhere Geschwindigkeit, Effizienz, Sensibilität und Tiefe der aus der DNA gewonnenen Informationen. Neben diesen Chancen bringt die Welle indessen auch erhebliche Risiken für die betroffenen Personen und Gruppen mit sich und stellt die Gesellschaft damit vor noch prononciertere soziale, ethische und rechtliche Fragen als die dritte Welle das bereits tut. Denn die Verbesserungen der Analysefähigkeit sind tiefgreifend: Prinzipiell kann damit das gesamte menschliche Genom rekonstruiert werden. Vor allem mit Blick auf den Wechsel der Analyserichtung der Polizei – weg von reiner identifizierender Beweisführung, hin zur Gewinnung von auf genetischen Informationen fußender Erkenntnis über Personen – ist fraglich, ob eine solche Entwicklung in einer menschenrechtsverbundenen Gesellschaft wünschenswert ist._c
In Hinblick auf diese Entwicklung ist nicht nur die Wissenschaft zur Positionierung berufen. Wie das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit ausgestaltet werden soll, ist eine Frage, deren Beantwortung im Wesentlichen Politik und Zivilgesellschaft obliegen muss. Denn wie technologische Innovationen in der Strafverfolgung wirken, ist nicht nur von technischen Zusammenhängen determiniert, sondern wird maßgeblich durch die kulturellen und sozialen Bedingungen einer Gesellschaft mitbestimmt. Insofern muss eine angemessene Balance zwischen sinnvollen und zu weit gehenden Nutzungen genetischer Informationen gefunden werden. Mit zunehmendem Aufkommen und Nutzungsmöglichkeiten von genetischen Daten besteht freilich stets die Gefahr, dass es schleichend zu einer breiteren Datennutzung auch durch den Staat kommt, schlicht weil die Daten verfügbar sind und die Analysemöglichkeiten sich verbessert haben. Damit zählt auch die Ausweitung der genetischen Überwachung zu einem Phänomen technologisierter Gesellschaften, das Morozov als „solutionism“ bezeichnet hat10, also die Idee, dass es für jedes gesellschaftliche Problem eine (rein oder in erster Linie) technische Lösung gäbe. Auch bei strafrechtlichen Ermittlungen besteht die Gefahr, dass vor allem technologische Lösungen in den Vordergrund gestellt und andere vernachlässigt werden. Dabei sind Mittel denkbar wie etwa eine angemessen finanzierte und qualitativ hochwertige Polizeiarbeit oder eine verstärkte deliktspezifische Prävention, bspw. bei Sexualkriminalität, die weniger technologisch, dafür aber mitunter menschenrechtsfreundlicher wären.
- 1Hindmarsh, R./Prainsack, B. (Hg.) (2020): Genetic suspects. Global governance of forensic DNA profiling and databasing. Cambridge, GB: Cambridge University Press.
- _aMachado, H./ Granja, R. (2021): Genetic Surveillance and Crime Control. London: Routledge.
- 3Marx, G.T. (2002): What‘s New About the „New Surveillance“? Classifying for Change and Continuity. In: Surveillance and Society 1, 1, S.9-29. https://doi.org/10.24908/ss.v1i1.3391.
- 4Wienroth, M./Morling, N./Williams, R. (2014): Technological innovations in forensic genetics: social, legal and ethical aspects. In: Recent Advances in DNA & Gene Sequences 8, 2, S.98-103. https://doi.org/10.2174/2352092209666150328010557.
- 5BKA (2022): DNA-Identifizierungsmuster/DNA-Analyse-Datei (DAD). Online: https://kurzelinks.de/gid262-if [letzter Zugriff: 08.06.22].
- 6Amankwaa, A. O. (2018): Forensic DNA retention: Public perspective studies in the United Kingdom and around the world. In: Science & Justice, 58, 6, S.455–464, https://doi.org/10.1016/j.scijus.2018.05.002.
- _bMachado, H./ Granja, R. (2021): Genetic Surveillance and Crime Control. London: Routledge.
- 7Der Begriff der DNA-Phänotypisierung ist problematisch, da er suggeriert, dass der Phänotyp einfach aus der DNA ableitbar ist. Tatsächlich lassen sich die Merkmale mitunter nur mit begrenzter Zuverlässigkeit aus genetischem Material „ablesen“. Die „bio-geografische Herkunft“ ist in der Regel überhaupt nicht nach außen sichtbar.
- 8M‘charek, A. (2020): Tentacular Faces: Race and the Return of the Phenotype in Forensic Identification. In: American anthropologist 122 ,2, S.369–380, https://doi.org/10.1111/aman.13385.
- 9Butz, F. (2021): Die Polizei und ihr Zugriff auf DNA-Daten: eine „genetische Inquisition“? In: Neue Kriminalpolitik 33, 3, S.316–332, https://doi.org/10.5771/0934-9200-2021-3-316.
- _cMachado, H./ Granja, R. (2021): Genetic Surveillance and Crime Control. London: Routledge.
- 10Morozov, E. (2014): To save everything, click here. The folly of technological solutionism. New York: PublicAffairs.
Felix Butz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtssoziologie von Professorin Dr. Katrin Höffler an der Universität Leipzig.