Geiz ist geil
„Europäische Werte“ im globalen Verteilungskampf
Die gerechte Verteilung von Covid-19-Impfstoffen ist gescheitert. Eine schnellstmögliche Steigerung der Produktion könnte ihren Teil zur Wiedergutmachung leisten, wird jedoch von bereits versorgten WTO-Mitgliedsstaaten blockiert.
Die globale Verteilung von Impfstoffen ist gescheitert. (Image by Arek Socha from Pixabay)
Immer wieder wurde es betont, versprochen, gefordert: Covid-19-Impfstoffe sollen ein „globales, öffentliches Gut“ sein. So erklärte Ursula von der Leyen im Frühjahr 2020 noch, die EU werde alles daransetzen, bezahlbare Impfungen in alle Ecken der Welt zu bringen. Auch Kanzlerin Merkel bekannte sich zu diesem Plan. Stimmen wie die europäischen Ethikräte, der Bundespräsident oder der UN-Generalsekretär mahnten immer wieder die Notwendigkeit eines international-solidarischen Umgangs mit der globalen Krise an – und ebenso mit den Impfstoffen und anderen Medizin-Produkten, die sie beenden sollen.
Wer zuerst kauft, mahlt zuerst
Vielfach wurde erläutert, dass die Pandemie erst gebannt sei, wenn sie möglichst überall unter Kontrolle gebracht wäre. Denn je mehr Menschen mit dem Virus infiziert sind, desto häufiger erhält es die Gelegenheit, eine neue Kombination von Mutationen zu entwickeln und somit die Chance, seine Verbreitung weiter zu beschleunigen. Wie zügig ein solches Ereignis globale Wellen schlagen kann, dürfte im Grunde bereits die initiale Ausbreitung von SARS-Cov-2 im Frühjahr 2020 hinreichend verdeutlicht haben. Dass ein unter der eigenen Bevölkerung verteilter Impfstoff einer neuen Kombination von Mutationen ggf. nicht mehr gewachsen sein kann – sodass eine Wiederaufnahme von Einschränkungen bis zum Start (und Erfolg) der nächsten Impfkampagne drohen könnte – ist ebenfalls kein Geheimnis. Gleiches gilt für die Tatsache, dass jedes Verzögern des Pandemieendes weitere Leben kostet.
Eine weltweit koordinierte Eindämmung der Pandemie durch flächendeckendes Impfen erscheint in diesem Licht wie ein sinnvoller Plan, würde er doch gar zur Verwirklichung des Menschenrechtes auf einen gesunden Lebensstandard und ärztliche Versorgung beitragen. Innerhalb Deutschlands wurde intensiv über eine moralisch-ethisch vertretbare Verteilung des knappes Guts beraten. Kriterien wie die individuelle Gefährdung durch das Virus oder das vor allem für medizinisches Personal hohe Infektionsrisiko ermöglichen mittlerweile vielerorts eine frühzeitige Impfung – vorausgesetzt, die Nationalität stimmt. Sie ist und bleibt erstes Kriterium, wenn es um den Zugang zu Covid-19-Impfstoffen geht.
Während mit Stand 17.04.21 weltweit lediglich 11,4 verabreichte Impfdosen pro 100 Menschen erfasst wurden, dürfen sich die Einwohner*innen wohlhabender Staaten über ein deutlich höheres Tempo freuen. In der EU konnten bereits 24,8 Dosen je 100 Personen verimpft werden, in Nordamerika sogar 39,4. Mit 8,7 bzw. 1,1 verabreichten Dosen haben die Menschen in Asien bzw. Afrika aktuell das Nachsehen. Ärmere Staaten waren nicht in der Lage, Abnahmeverträge mit den herstellenden Unternehmen zu schließen und müssen sich gedulden, bis das unterfinanzierte WHO-Hilfsprogramm Covax seine mageren Kontingente ausliefert oder andere Länder zu dem Entschluss kommen, genug Impfdosen zu besitzen, um eine Abgabe erübrigen zu können.
Keine Produktion ohne Erlaubnis
Klappt es schon mit der gleichmäßigen Verteilung der begrenzten Ressourcen nicht, könnte immerhin eine zügige Steigerung der weltweiten Impfstoff-Produktion Abhilfe schaffen. Hier ergeben sich freilich diverse Hindernisse. Einige liegen, ganz physikalisch sozusagen, auf der Hand. Geeignete, mit qualifiziertem Personal besetzte Produktionsstätten fallen nicht über Nacht vom Himmel, genauso wenig wie die vielen verschiedenen, chemischen Zutaten, Materialien und Geräte, die es zur Herstellung von Impfstoffen braucht. Um die gekühlte Ware dann in alle Länder der Welt zu transportieren, braucht es eine funktionierende Infrastruktur. Die öffentlichen Gesundheitssysteme vor Ort benötigen Räumlichkeiten, Material und wiederum geschultes Personal, um die Impfungen durchzuführen.
Andere Hindernisse scheinen eher eine Frage der Betrachtungsweise zu sein. Trotz der „internationalen, gemeinsamen Kraftanstrengung“, mit der die nötige Hochdruck-Entwicklung von Impfstoffen im Jahr 2020 oftmals beschrieben wurde, besitzt die Weltgemeinschaft keinen eigenen Impfstoff. Sie verfügt weder über ein Rezept noch über die technischen Details und Rechte seiner Herstellung. Diese entscheidenden Informationen über Covid-19-Impfstoffe gehören der jeweils entwickelnden Pharmafirma. Sie allein darf für mindestens 20 Jahren entscheiden, wer ihr Produkt wo herstellen darf und wem sie es dann zu welchem Preis anbietet. Das gilt auch, wenn dieses Produkt abertausende Leben retten und Millionen weiteren ihre Chancen und Perspektiven zurückgeben würde, die privatwirtschaftliche Produktionskapazität der globalen Nachfrage aber bei weitem nicht gerecht wird.
Festgehalten wird dieses Hemmnis in der Nutzung des technischen Fortschritts im internationalen TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights Agreement) der Welthandelsorganisation (WTO). Es schreibt den Schutz von Patenten, Urheberrechten und anderen sog. geistigen Eigentumsrechten vor und ist für alle 164 WTO-Mitgliedsstaaten seit seiner Verabschiedung 1995 bindend. Begründet werden die marktwirtschaftlichen Sonderrechte mit den Investitionen, die die Entwicklerfirma im Vorfeld ihrer Erfindung tätigen musste. Hätte sie – falls ihre Produktentwicklung denn erfolgreich verläuft – nicht die Aussicht auf ein gesetzlich geschütztes, internationales Monopol zur jahrzehntlangen Zementierung von Profiten gehabt, wäre sie diese finanziellen Risiken gar nicht erst eingegangen, so der Gedanke. Wie viel privates Firmenvermögen tatsächlich in den Entwicklungskosten steckt, muss für die Wahrung dieser Sonderrechte aber nicht offengelegt werden – nicht einmal zur Begründung der Preisgestaltung.
Eine Frage des Besitzes
Schätzungen gehen einstweilen davon aus, dass über die Hälfte der Arzneimittel-Entwicklungskosten durch staatliche Mittel finanziert wird – so z.B. durch die jahrzehntelange Grundlagenforschung, die die Erfindung neuer Arzneimittel erst ermöglicht und i.d.R. mittels öffentlicher Fördergelder an Universitäten und anderen wissenschaftlichen Instituten rund um den Globus geleistet wird. Zudem wurden mit Auftauchen von SARS-Cov-2 weltweit zusätzliche 93 Mrd. Euro Steuergelder explizit in die Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen investiert. Ein „globales, öffentliches Gut“ konnten diese Investitionen bisher nicht bescheren. Eine Sonderklausel des TRIPS-Abkommens, die sog. TRIPS-Flexibilität, ermöglicht es einer Nation zwar theoretisch, einzelnen Produktionsstätten im Land die Herstellung eines dringend benötigten Arzneimittels per Zwangslizenz zu gestatten – die Umsetzung dieser Klausel gestaltet sich im Einzelfall jedoch komplex. Ein globaler Notfallmechanismus, der einer Pandemie der aktuellen Größenordnung gewachsen wäre, fehlt.
Vor diesem Hintergrund schlugen die WTO-Mitglieder Südafrika und Indien im Oktober 2020 per Antrag vor, Teile des TRIPS-Abkommens für den Zeitraum der Pandemie auszusetzen und seine Anwendung bei Covid-19-Arzneien, Covid-19-Diagnostika und anderen, zur Pandemiebekämpfung wichtigen Medizinprodukten wie Beatmungsgeräten oder Schutzkleidungen nicht mehr zu erzwingen. Den Mitgliedstaaten würde es offenstehen, die mit diesen Produkten verbundenen, geistigen Eigentumsrechte durchzusetzen. Jede Nation, die über entsprechende Produktionskapazitäten verfügt oder diese aufbauen könnte, wäre rechtlich auch sofort dazu in der Lage – ohne die kleinteilige und komplexe Abwicklung einzelner, beschränkter Lizenzverträge.
Die tödliche Blockade
Nach vielfacher Diskussion des Antrages schützen die reichen WTO-Mitglieder wie die EU, Japan, Australien, Großbritannien oder die USA jedoch lieber weiterhin die Profitrechte der vorrangig dort ansässigen Pharmaindustrie und blockieren zielführende Verhandlungen. Sie haben ihre Bevölkerung durch den Einkauf von Impfdosen bereits überversorgt. Argumentiert wird einerseits mit dem Entstehen bilateraler Firmenkooperationen – wie der zwischen den Unternehmen Biontech und Pfizer –, die sich bereits in Eigenregie um den Ausbau der Produktion bemühen würden. Eine koordinierte Ausschöpfung der weltweiten Kapazitäten kann so jedoch kaum erzielt werden. Andererseits sei es nicht erwiesen, dass der von über 100 WTO-Staaten unterstützte Aussetzungsantrag, der sog. TRIPS-Waiver, tatsächlich zu einer zügig steigenden Produktion führen könne. Hemmnisse wie ein zeitraubender Transfer des nötigen Know-Hows würden dies weiterhin verhindern. Gleichzeitig böte die Flexibilität des TRIPS-Abkommens bereits alle nötigen Mechanismen. Der Erhalt bestehender Schranken wird also mit der Existenz weiterer, zu überwindender Schranken gerechtfertigt. Der Zeitgewinn wird in Frage gestellt und mit der Blockade von Verhandlungen beantwortet.
Auch die Bunderegierung möchte den TRIPS-Waiver nicht unterstützen, sondern beruft sich auf die Nutzung der TRIPS-Flexibilität und bereits getätigte Spenden. Eine Haltung, die zu weitreichenden Verzögerungen führt, denn eine Genehmigung des Antrages erfordert zunächst einen Konsens in der WTO. Kommt dieser nicht zustande, könnte er auch per Abstimmung angenommen werden, allerdings ist hier eine Dreiviertelmehrheit im WTO-Rat nötig und einen Termin gibt es bisher nicht. Da sich die EU mit ihren 27 Stimmen gern geschlossen bei der WTO präsentiert, käme einer deutschen Unterstützung des TRIPS-Waivers eine einflussreiche Rolle zu. Zahlreiche internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation, Ärzte ohne Grenzen, Peoples’ Health Movement und Human Rights Watch stellen sich indes auf die Seite der öffentlichen Gesundheit und fordern reiche Industrienationen dazu auf, ihre tödliche Blockade beim nächsten Zusammentreffen des WTO-Rates Anfang Mai aufzugeben. Andernfalls sehen die Prognosen düster aus: Analysen legen nahe, dass die ärmsten Staaten der Welt unter den aktuellen Voraussetzungen womöglich erst zum Jahr 2024 mit umfassenden Impfungen gegen Covid-19 beginnen könnten.
Theresa Roy war von Oktober 2020 bis April 2021 Redakteurin des GID und Mitarbeiterin im GeN.
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