Rezension: Menschenzucht. Frühe Ideen und Strategien 1500-1870

„Gewöhnungseffekt“

Eine körperliche und intellektuelle Optimierung des Menschen wird seit der Antike diskutiert. Die Mehrzahl der frühen, proto-eugenischen Ideen wurde zwar nie in die Praxis umgesetzt, wirkmächtig waren sie dennoch. Maren Lorenz, Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit und Geschlechtergeschichte, konzentriert sich in ihrem aktuellen Buch auf normative Texte und Diskurse aus dem deutsch-, französisch- und englischsprachigen Raum, die erörtern, „wie mit den als suboptimal definierten Individuen umzugehen sei“. Dabei identifiziert sie konstante Charakteristika eugenischer Konzepte wie den „unhinterfragten Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum“ oder den Umstand, dass letztlich immer den Frauen die „Hauptverantwortung für die gesunde Fortpflanzung zugewiesen wurde“. Zudem gibt sie zahlreiche Beispiele dafür, dass Plädoyers für konkrete Maßnahmen stets mit politischen, ökonomischen und partikularen wissenschaftlichen Interessen verflochten und von den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt waren. Vor allem gelingt es Lorenz zu zeigen, wie im Verlauf der Jahrhunderte durch die anhaltende Thematisierung „perfektionierender“ Strategien (und ihrer vermeintlichen Notwendigkeit) Diskursgrenzen verschoben wurden in Richtung einer „Normalisierung“ eugenischer Ideen. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass Lorenz begriffsgeschichtlich wenig sensibel von „Rassen“ ohne Anführungszeichen spricht, und das Konzept selbst auch nicht explizit in Frage stellt, obwohl klar wird, dass sie jegliche Hierarchisierung zwischen Menschen ablehnt. Erfreulich ist wiederum, dass sie bei ihrer Analyse Klassenverhältnisse mitbedenkt und konsequent die Ebene der Geschlechterverhältnisse herausarbeitet.

➤ Lorenz, Maren (2018): Menschenzucht. Frühe Ideen und Strategien 1500-1870. Göttingen: Wallstein. 416 Seiten, 24 Abbildungen, 34,90 Euro, ISBN 978-3-8353-3349-9.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
250
vom August 2019
Seite 37

Birgit Lulay promovierte 2017 zur Verschränkung eugenischer und sozialistischer Ideen um 1900. Derzeit arbeitet sie als freie Lektorin.

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